Schulleiter Georges GereigeAUCH HEUTE gibt es keinen Strom in Bab el-Tabbaneh. Doch um was es in diesem überfüllten Hinterzimmer in einer der schmalen Gassen des Viertels geht, ist auch im schwachen Licht der aufgeregt hin- und hergereichten Handys gut zu erkennen: Waffen werden herumgereicht. Kleinkaliber, Sturmgewehre. Und sie sind einsatzbereit. Ein wenig abseits steht Georges Gereige, christlichmaronitischer Priester und Direktor der einzigen noch geöffneten Schule Tabbanehs. Ministre de la Défense rufen sie ihn scherzend, wenn er durch die Straßen geht. Verteidigungsminister. Eine geachtete Persönlichkeit im Viertel, auch von den verschiedenen Warlords. Ist Gereige in den Gassen unterwegs, muss er viele Hände schütteln. Jetzt klopft er Ali Abdel Gafour auf die Schulter. Er freut sich, dass der 42-Jährige das Sturmgewehr wieder gegen die Hand seines kleinen Sohnes getauscht hat. Denn es ist nicht lange her, dass Ali Abdel Gafour wieder zu einer scharfen Waffe gegriffen hat.
Bürgerkrieg trennte Bekannte und Nachbarn
Tripoli ist noch vom Bürgerkrieg geprägtDabei war sein Schüler aus früheren Tagen doch gerade erst aus der Haft entlassen worden. Das war 2012. Wenige Monate zuvor war im Nachbarland Syrien der Konflikt zwischen Präsident Baschar Al-Assad und Oppositionellen eskaliert. Plötzlich verlief die syrische Front auch mitten durch zwei ewig rivalisierende Viertel in Tripoli: das sunnitisch geprägte Bab el-Tabbaneh mit Unterstützern der syrischen Opposition und einzelnen islamistischen Milizen, und westlich davon Jabal Mohsen, wo die überwiegend alawitische Bevölkerung traditionell der schiitisch geprägten Hisbollah nahe steht und mit dem Alawiten Assad sympathisiert. Die Trennlinie markiert bis heute die Rue de Damas, eine Straße ausgerechnet benannt nach der syrischen Hauptstadt.
Wie schon im libanesischen Bürgerkrieg 1975 bis 1990 trennten die Kämpfe einmal mehr Bekannte und Nachbarn. Sortierten die Bewohner in Kategorien, der jeweils Andersgläubigen oder der Anhänger verfeindeter politischer Lager. Männer wie Ali Abdel Gafour verletzten und töteten in diesen Stellvertreterkriegen Menschen auf der jeweils anderen Seite der Rue de Damas. Viele haben geliebte Familienmitglieder verloren. Manche fühlen den Hass bis heute. Die gerade wieder rasant zunehmende Spannung im Libanon fühlen alle.
Libanons Krise lässt Lehrer auswandern
Lehrerin May Zaatini wird auswandernAuch in den beiden Schulen im Herzen der Viertel, die die christlich-maronitische Kirche dort seit vielen Jahren betreibt. Gleich hinter der Frontlinie markiert ein liegengebliebener Panzer das Tor zur Al Moutrane Al Raaiya-Schule in Bab el-Tabbaneh. Rund 60 Prozent der gut 300 Schülerinnen und Schüler sind sunnitische Muslime, die übrigen kommen aus alawitischen Familien. Christen gibt es hier keine. Noch immer sind nicht alle Einschusslöcher zugespachtelt.
Schulleiter Georges Gereige hat zum Krisengespräch geladen. Von neun Lehrern haben fünf zum Schuljahresende ihre Kündigung eingereicht. Weitere werden folgen. Wie May Zaatini, die seit Jahren an der Schule lehrt, – auch in den harten Zeiten, wie sie sagt. Sie wird mit ihrer Familie nach Kanada auswandern: „Das Libanesische Pfund ist durch die Inflation nichts mehr wert. Davon können wir weder leben noch die Betreuung für unser Kind bezahlen.“
Wie alle kirchlich geführten Schulen im Libanon gehört Al Moutrane zu den halbfreien Schulen. Eltern zahlen ein Minimum an Schulgebühren, gekoppelt an ihr Einkommen. In manchen Vierteln Tripolis ist die Arbeitlosenquote durch die schlimmste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Libanon inzwischen jedoch bei mehr als 60 Prozent angelangt. Der Staat ist bankrott und hat seine Zahlungen für das Schulwesen eingestellt. Vor den Schultoren leben die meisten Menschen unterhalb der Armutsgrenze, sagt Gereige. „Offen gesagt: Ich weiß nicht, wie es weitergeht.“
Kirche hilft bei Schulgebühren
Ali Abdel Gafour ist an diesem Nachmittag mit dabei im Klassenzimmer. Er hat sechs Kinder, vier von ihnen besuchen schon die Schule, seine Schule. Als er 1981 hier in Tabbaneh geboren wurde, brannten die Gassen. Irgendwann kam er einfach nicht mehr zum Unterricht und kämpfte mit. Der Krieg hat ihn geprägt. Eigentlich hätte er als junger Mann das kleine Geschäft seines Vaters übernehmen sollen, erzählt er. Möbel drechseln für die Bewohner des Viertels. Heute hat sich Ali Abdel Gafour eine kleine Parkbucht vor dem Tor zur Hauptgasse zueigen gemacht und bewacht Autos. Aber die Einnahmen reichen der Familie kaum zum Leben. Bei den Schulgebühren hilft gerade die Kirche aus. „Ich will das alles nicht mehr“, sagt Ali Abdel nachdenklich. „Wer welcher Religion angehört – das spielt doch keine Rolle. Ich will meinen Kindern etwas zu essen geben.“ Eindringlich blickt er Schulleiter Gereige an: „Bitte beschützen Sie diese Schule! Sie ist unsere einzige Hoffnung in Tabbaneh!“
Im Viertel gegenüber, ein Stück den Berg hoch, feiert die Al Qubbet al Nasr-Schule gerade ihr Schulfest. Es ist ein großes Haus mit knapp 1000 Schülern. Eine Institution in Tripoli mit einem guten Ruf. Rund 700 Kinder sind Alawiten, 200 Sunniten. Drei Kinder stammen aus christlichen Familien. In den 1980er Jahren hatten die verschiedenen Bürgerkriegsparteien das historische Gebäude zu einem Gefängnis umgewidmet. Zu dieser Zeit verließen viele christliche Familien unter dem Druck des Konflikts die Stadt und wanderten aus.
Schulen leisten Versöhnungsarbeit
Der Schulweg in Bab el-Tabbaneh: Ali Abdel Gafour bringt seine Söhne zum UnterrichtHeute sind im Pausenhof Spielstände aufgebaut, Hüpfburgen, Getränke werden ausgeschenkt. Am Eingang übergeben alle Kinder brav ihre Spielzeugwaffen an Schuldirektor Joseph Antoum. „Diese Kinder sind Kinder des Krieges. Wie sie reden, was sie tun. Viele Väter haben schlimme Dinge getan“, sagt der maronitische Priester. Er und sein Lehrerteam haben viel Arbeit, weit über den Lehrplan hinaus: „Es geht nicht nur darum, Mädchen und Jungen gut auszubilden“, erklärt Joseph Antoum, der in den Klassen bewusst einen alawitischen Jungen neben ein sunnitisches Mädchen setzt. „Wir leisten Versöhnungsarbeit, wir bringen hier Eltern zusammen. Das ist enorm wichtig.“
Antoum hat – wie auch sein Schulleiter-Kollege Georges Gereige im Viertel gegenüber – regelmäßige Treffen für Väter und Mütter angeboten und hin und wieder Ausflüge organisiert, „damit sich der Horizont weitet“, wie er erklärt. Es geht um Respekt, um Toleranz. Die Ausflüge finden schon lange nicht mehr statt. „Die Kosten sind zu hoch“, sagt er. Auch Joseph Antoum kämpft, wenngleich einen anderen Kampf als die Männer in Jabel Mohsen und Tabbaneh. Von Christen geführte Schulen haben im Libanon von jeher einen hohen Stellenwert. Jeder weiß um die Qualität der Lehre und um die gutenSchulleiter Antoum Zukunftschancen für Absolventen. Aber auch die Al Qubbet al Nasr-Schule verliert Lehrerinnen und Lehrer. Antoum weiß, es liegt auch an seiner Schule, ob die Bewohner unter der Last der Wirtschaftskrise und der zunehmenden Armut einknicken und in den nächsten blutigen Konflikt rauschen. Es liegt auch an seiner Schule, ob die Waffen in Zukunft schweigen.
Kirche als Katalysator
„Die Kirche ist unser Katalysator“, bestätigt Scheikh Firas Ballout. Er ist Sprecher und Vertreter der sunnitischen Muslime in einer interreligiösen Arbeitsgemeinschaft, die die vier größten Glaubensgemeinschaften in Tripoli vor dem Hintergrund des syrischen Konflikts 2016 ins Leben gerufen haben. Man bespricht sich seitdem regelmäßig, organisiert Veranstaltungen an Schulen oder an den Universitäten, wo es eben noch möglich ist.
Heute steht nur ein einfaches, gemeinsames Mittagessen an. Abboud Gebrael, maronitischer Priester und heutiger Gastgeber, umarmt seinen orthodoxen Kollegen Ibrahim Dourbali und nimmt Alawiten-Scheikh Mouhamad Haydar und Scheikh Ballout herzlich in Empfang. „Man kann sagen, wir sind Freunde“, erklärt Gebrael. „Wir sind heute durch die Folgen der Wirtschaftskrise mehr vereint denn je.“ Ob es ihnen gelingen kann, den Dialog in die Bevölkerung zu tragen? Längst geht es um mehr als um Religionszugehörigkeit. Es geht um die Zukunft des Libanon.