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Touren in die koloniale Vergangenheit


16. Dezember 2021
Die Rubrik "Blickwechsel" in unserer Mitgliederzeitschrift missio magazin porträtiert alle zwei Monate Menschen aus verschiedenen Ländern, die bei allen Unterschieden eines eint. Diesmal führt Issa Camara den Besuchern der ehemaligen Sklaveninsel Gorée vor Augen, was sich auf dem Eiland vor Dakar über Jahrhunderte hinweg abgespielt hat. Simon Primus führt die Teilnehmer seiner Rundgänge durch München und zeigt anhand konkreter Orte auf, welchen menschlichen Preis der durch den Kolonialismus erworbene Wohlstand kostete.
© Jörg Böthling/missio München

Issa Camara (58), Touristenführer auf der Insel Gorée.

DIE ÜBERFAHRT ist kurz, aber sie führt in eine andere Welt. Die Häuser in ihren pastellenen Tönen atmen den Hauch vergangener Jahrhunderte. Schmale Gässchen, keine Autos. Die Insel Gorée liegt vor der Küste der senegalesischen Hauptstadt Dakar. So idyllisch sie ist, so sehr ist sie Symbol für die Tragödie eines ganzen Kontinents. „Den Leuten, die ich hierher bringe, sage ich: Wir vergeben, aber wir vergessen nicht“, sagt Issa Camara.

Der 58-Jährige kennt die Insel, die zum Weltkulturerbe zählt, besser als viele andere. Zwanzig Jahre lang hat er als Touristenführer Besuchern aus der ganzen Welt ihre Geschichte nahe gebracht. „Auch aus Deutschland“, sagt er. An eine Kolpinggruppe erinnert er sich gut, besonders sympathisch seien die Leute gewesen. Dann kam die Corona-Pandemie, die Touristen blieben weg und Issa Camara stand vor dem Problem, seine Familie zu ernähren. Genau wie die vielen Künstler und Ladenbesitzerinnen auf Gorée, die von den vollbesetzten Fährbooten gelebt hatten. Seit September ist es nun wieder möglich, ohne Sondergenehmigung in den Senegal zu reisen. Falls das so bleibt und die Besucher wieder kommen, kann Issa Camara mit einem sicheren Geschäft rechnen: Für Touristen gehört Gorée zum Pflichtprogramm. Denn über Jahrhunderte hinweg war die Insel ein Umschlagplatz für Sklaven in Westafrika. „Die Menschen wurden im Hinterland gefangen oder den Dorfchefs abgekauft.

Hier auf Gorée wurden sie gesammelt bis sie verschifft wurden“, sagt Camara. Ein einziges Sklavenhaus ist bis heute erhalten geblieben, das nun ein Museum ist. Zwar haben neuere Forschungen ergeben, dass die kleine Insel nicht Hauptumschlagplatz des Sklavenhandels gewesen sein kann, wie es noch bis zur Jahrtausendwende angenommen wurde. Zu klein sei sie, zu schwer anzusteuern für Sklavenschiffe und zu wasserarm, um die menschliche Ware vor dem Verschiffen vorm Verdursten zu bewahren.

Aber dennoch: Auch wenn umstritten ist, wieviele Menschen genau über Gorée Opfer der Sklavenhändler wurden und ob sie genau durch die „Pforte ohne Wiederkehr“ die Seereise über den Atlantik antreten mussten – sicher ist, dass Millionen Afrikaner gefangen, gebrandmarkt und verschifft wurden. Aus Westafrika, und eben auch von der Insel Gorée aus, ging die Fahrt bis insJahrhundert hinein nach Europa. „Als dann die neue Welt entdeckt wurde, wurden die Menschen auf die Plantagen Brasiliens und der westindischen Inseln verschifft“, sagt Issa Camara. Nur ein kleiner Teil der Versklavten sei lebend dort angekommen. Von dort, und auch aus Nordamerika, kommen seit Jahren auch die Nachfahren der ehemaligen Sklaven nach Gorée. „Sie suchen nach ihren Wurzeln und wollen über die Orte hier der eigenen Geschichte nachspüren“, sagt er.

Und nicht nur das. Nelson Mandela hat die Insel Gorée besucht. Michelle und Barack Obama und andere Staatschefs und Politiker waren hier. Auch Papst Johannes Paul II. ist 1992 nach Gorée gekommen, hat der Millionen verschleppten, gequälten und versklavten Menschen gedacht und an der Pforte ohne Wiederkehr gebetet. Die Botschaft dieser berühmten Menschen ist die, die auch Issa Camara, der Touristenführer, den Besuchern mit auf den Weg gibt: Niemals zu vergessen.

TEXT: Barbara Brustlein
FOTO: Jörg Böthling


Blickwechsel 2022 1 Simon PrimusSimon Primus (35), Stadtführer bei postkolonialen Rundgängen.

DAS SCHICKSAL von Juri und Miranha berührt: Im Jahr 1820 kamen die beiden aus Brasilien nach München – verschleppt unter anderem vom Naturforscher Carl Friedrich Philipp von Martius. Die Kinder wurden den Münchnern wie Ausstellungsstücke aus einer „exotischen“ Welt vorgeführt. Wenige Monate später starben sie und wurden auf dem heutigen Alten Südfriedhof beigesetzt. Heute gibt es dort keine Spur mehr von ihnen, das Grab des Botanikers Martius existiert allerdings noch immer. Kaum jemandem ist bewusst, dass er und viele seiner Forscherkollegen neben Pflanzen und Tieren auch verschleppte Menschen aus den einstigen Kolonien mit nach Europa brachten.

Genau aus diesem Grund kommt der Politikwissenschaftler Simon Primus regelmäßig hierher auf den Alten Südfriedhof: Um den Menschen in postkolonialen Stadtrundgängen durch die bayerische Landeshauptstadt die Ausmaße, Verbrechen und vor allem auch Folgen der deutschen Kolonialgeschichte deutlich zu machen. Das Projekt dahinter ist eine Kooperation der Münchner Vereine „Freundschaft zwischen Ausländern und Deutschen“ und „Commit“, der sich für globale Bildungs- und Entwicklungszusammenarbeit einsetzt. „Viele sind immer noch überzeugt davon, dass die deutsche Kolonialgeschichte nur ‚eine kleine Episode‘ war“, sagt Primus. „Unsere Kultur hat aber damals schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, die bis heute nachwirken.“ Der 35-Jährige ist sich sicher, dass es hier ein stärkeres Bewusstsein braucht.

Deutlich werde das an den vielen „kolonialen Narrativen“, die unser Denken und unsere Umgebung noch immer prägten, sagt er und führt die Stadtspaziergänger weiter zum Marienplatz. Vor dem Neuen Rathaus kommt er auf Straßennamen zu sprechen, die oft unkommentiert an die Kolonialzeit erinnern, wie die Kameruner- oder die Martiusstraße. Weiter geht es zum Delikatessenhaus Dallmayr. „In der Hochzeit des Kolonialismus wurden hier viele Waren aus den besetzten Gebieten angeboten. Im Angesicht des prächtigen Interieurs kann man sich gut zurückversetzen in eine Zeit, in der die Begeisterung für die neuen Güter aus der Ferne und der Glaube an die eigene Größe die tatsächliche Grausamkeit des Kolonialismus überlagerte“, sagt Primus.

Diese „Romantisierung“ will er entlarven: „Auch heute finden wir oft noch exotischverklärende Darstellungen auf Produktverpackungen, während der Handel mit Waren wie Kaffee, Kakao oder Früchten weiter auf Ausbeutung und Unterdrückung setzt.“ Viele der Teilnehmenden seien immer wieder völlig überrascht, welche Spuren noch da sind, erzählt Primus. „Auch heute übernehmen wir oft noch kolonial geprägte Stereotype. Gleichzeitig werden die gegenwärtigen Folgen des Kolonialismus übersehen. Die Probleme der jungen Staaten Afrikas werden auf ein Versagen von Bevölkerung und Eliten zurückgeführt, während koloniale Ursachen ausgeblendet werden.“

Simon Primus hat selbst von 2012 bis 2014 in Ghana gelebt und an der University of Ghana in Accra studiert. Gerade hat er seine Doktorarbeit zum „Wahlverhalten in Afrikas Demokratien“ fertiggestellt. „Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der sich Menschen gleich welcher Hautfarbe und Herkunft, wohlfühlen, und alle Menschen die Möglichkeit haben, ihre Potenziale für die Gesellschaft zu entfalten.“

TEXT UND FOTO: Antje Pöhner

 

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