Gelebte Inklusion - in München und Varanasi
Carmen Fischer, 39, Kantinenmitarbeiterin in München
TOLERANZ und Zusammenhalt, das ist es, was Carmen Fischer besonders mag an ihrer Arbeit. Die 39-Jährige ist in der Cantina Conviva, der Kantine der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF), im Münchner Museumsviertel beschäftigt. Mit einer Kollegin ist sie dort jeden Wochentag zwischen 10.30 Uhr und 16 Uhr für die Spülküche zuständig: Sie wäscht das Geschirr, das nicht in die großen Spülmaschinen passt, trocknet ab und kümmert sich ums Abräumen der Geschirrwagen.
Menschen mit und ohne Behinderung
Die Kantine ist Teil der Inklusionsbetriebe des gemeinnützigen Vereins cba Cooperative Beschützende Arbeitsstätten. Dazu gehören das Blaue Haus – das Theaterrestaurant bei den Münchner Kammerspielen – und die Cafébar Conviva bei missio München in der Pettenkoferstraße. Das Besondere: Hier arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung Seite an Seite zusammen. 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind es allein in der HFF-Kantine.
Carmen Fischer spricht offen über ihre Lernbeeinträchtigung und ihre psychische Erkrankung. „Ich wüsste nicht, ob ich in der ‚normalen Arbeitswelt‘ überleben kann“, sagt sie. Zwar habe sie sich noch nie auf eine Stelle am freien Arbeitsmarkt beworben, aber es beruhige sie ungemein, dass sie das auch nicht müsse. „Ich fühle mich hier gut aufgehoben, und mir macht es Spaß mit den Kolleginnen und Kollegen.“
„Alle sind füreinander da“
Sie schätzt es, wie hier miteinander umgegangen wird. „Wenn jemand mal ausfällt, dann helfen wir alle zusammen. Alle sind füreinander da. Es ist schön, wenn man sich aufeinander verlassen kann. Klar gibt es auch mal kleine Diskussionen. Aber die sind schnell wieder vorbei.“ Fischer mag es, im Hintergrund zu arbeiten. Die Essens- oder Getränkeausgabe wäre nicht unbedingt etwas für sie, gibt sie zu, da lasse sie lieber anderen den Vortritt.
Carmen Fischer hat nach der Förderschule eine Hauswirtschaftsausbildung absolviert und danach 17 Jahre bei Putzblitz gearbeitet – dem Gebäudereinigungsbetrieb der cba. Seit Mai 2022 ist sie jetzt schon hier in der Kantine. Was sie nach ihrer Zeit als Reinigungskraft vor allem genießt, sind die moderaten Arbeitszeiten. „Die Büros, die wir geputzt haben, mussten meistens bis 6.30 Uhr sauber und fertig sein – da bin ich immer wirklich früh aufgestanden. Jetzt in der Kantine ist es schon viel angenehmer“, sagt Fischer und lächelt.
Hilfe bei Behördengängen
Selbstverständlich sei ihr neben der Arbeit auch ihre Freizeit sehr wichtig. Carmen Fischer wohnt alleine in einer Wohnung im Münchner Westen und kommt täglich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ins Museumsviertel. Regelmäßig wird sie von einem Betreuer unterstützt, der ihr, wenn nötig, bei der Regelung ihrer Finanzen oder bei Behördengängen hilft.
Nach Feierabend und an den Wochenenden macht sie gerne Ausflüge mit ihrem Freund. Am allerliebsten schaut sie aber Serien. „Ich bin ein Fernsehholic“, sagt sie über sich selbst. Sitcoms sind ihre Leidenschaft und am allerliebsten mag sie die Simpsons. Längere Filme, wie sie auf den Plakaten in der Kantine der Filmhochschule beworben werden, seien dagegen nicht so ihr Ding.
Trotzdem mag sie das Umfeld in der HFF sehr. Ab und an treffe man sogar berühmte Leute. Besonders in Erinnerung ist ihr da Tobias Krell geblieben, der Namensgeber und Moderator der Kinderwissenssendung Checker Tobi. „Ich habe sogar ein Foto und ein Autogramm von ihm bekommen. Das war ganz schön aufregend.“
Besuchen Sie die Cafébar Conviva im Haus der Weltkirche von missio München. Mehr erfahren Sie hier.
Reedu Patel, 26, Barista und Kellnerin in Varanasi
IHRE SPEZIALITÄT ist der Cappuccino. „Mir macht es ungeheuren Spaß, den Milchschaum mit Mustern zu verzieren“, sagt Reedu Patel. Die 26-Jährige ist Barista und Kellnerin im Restaurant Cafebility in der indischen Stadt Varanasi. Seit sieben Jahren arbeitet sie schon hier in dem modern eingerichteten Lokal in der Nähe der Mahatma Gandhi Kashi Universität. Dass Reedu Patel eine feste Arbeitsstelle gefunden hat, ist in Indien alles andere als selbstverständlich. Die junge Frau erkrankte als Zweijährige schwer an Polio – ihr rechter Arm und das linke Bein sind seither eingeschränkt.
Inklusives Café-Projekt der Indian Missionary Society
„Frauen an sich haben es schon schwer in Indien, aber wenn Du auch noch eine Behinderung hast, dann ist es fast unmöglich, einen Job zu finden”, sagt Patel. Dass es bei ihr anders gelaufen ist, verdankt sie dem katholischen Ordensmann Father Saji Josef von der Indian Missonary Society. Er hat ihr von dem inklusiven Cafebility-Projekt seiner Mitbrüder erzählt, Reedu hat sich beworben – und die Zusage bekommen. Im vergangenen Jahr sei sie sogar zur Café-Managerin aufgestiegen, erzählt sie stolz.
Das Cafébility ist täglich von 10.30 Uhr bis 21 Uhr geöffnet. Während dieser Zeit ist Reedu gemeinsam mit einem gehörlosen Kollegen und einer jungen Bedienung, die ebenfalls durch die Folgen einer Kinderlähmung-Erkrankung beeinträchtigt ist, für die Bewirtung der Gäste an den insgesamt acht Tischen des Cafés verantwortlich.
Es darf auch mal länger dauern
Reedu Patel bedient, kassiert, bereitet an der großen italienischen Kaffeemaschine wunderbar duftende Heißgetränke zu und ist dabei für das laufende Geschäft verantwortlich. „Natürlich können wir nicht genauso gut arbeiten, wie die sogenannten normalen Frauen und Männer”, sagt Reedu und erklärt: „Ich bin etwas langsamer im Laufen und kann nicht beide Arme gleich gut bewegen. Aber die Leute wissen, wenn sie hierher kommen, dass wir etwas ‚anders‘ sind. Daher schimpft eigentlich niemand, wenn es doch mal länger dauert.“
Reedu Patel hat im Cafebility die englische Sprache gelernt und eine professionelle Barista-Ausbildung absolviert. Inzwischen hätte sie auch gute Chancen, wenn sie sich in einem herkömmlichen Restaurant bewerben würde, schätzt die junge Frau. „Aber warum wechseln, wenn es hier so gut ist“, sagt sie lächelnd. Sie mag das Konzept, dass alle akzeptiert werden, so wie sie sind. An den Wänden des Cafés werben Plakate für Diversität.
Finanzielle Unabhängigkeit
In den Fenstern blinken Lichterketten, von der Decke hängen Luftballons. Was Reedu am meisten schätzt, ist die finanzielle Unabhängigkeit. „Ehrlich gesagt bin ich jetzt diejenige aus der Familie, die den besten Job hat und am meisten verdient. Wer hätte das jemals gedacht.“
Reedu Patel hat zwei Brüder und vier Schwestern. Ihre Eltern sind Kleinbauern, die älteren Geschwister arbeiten ebenfalls in der Landwirtschaft, die jüngeren gehen noch zur Schule. Gemeinsam mit ihnen und ihren Eltern wohnt sie in einem Dorf in der Nähe von Varanasi. Einen Freund habe sie leider nicht, berichtet sie etwas verlegen. In Indien sind arrangierte Ehen noch immer üblich. „Frauen wie ich finden keine Schwiegereltern, die eine Schwiegertochter mit einer Behinderung akzeptieren“, sagt Reedu Patel und konzentriert sich auf das Muster in ihrer nächsten Cappuccino-Bestellung.