Herr van der Heyden, sagt Ihnen Rolihlahla Mandela etwas, geboren 1918?
Sie meinen Nelson Mandela, den ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas?
Den Namen Nelson erhielt Mandela an seinem ersten Schultag an einer Missionsschule. Aber es änderte sich mehr als der Name. Mandela sagte einmal, ohne die Bildung durch Missionare hätte er sein Land nie in die Freiheit führen können.
Der Besuch der Missionsschule hat ihn dazu gebracht, die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch betrachten zu können. Damit ist er nicht alleine. Es gab ab 1960, dem sogenannten Afrikanischen Jahr, wohl kaum ein afrikanisches Staatsoberhaupt, das ohne missionarisch geprägte Schullaufbahn sein Land in die Unabhängigkeit geführt hat. Es ging zunächst darum, Lesen und Schreiben zu lernen, um Anschluss an die Moderne zu finden.
Aus dem Bildungsbürgertum gingen aber auch korrupte Eliten hervor, die die kolonialen Strukturen übernommen haben.
Die Abhängigkeit vom globalen Norden ist in vielerlei Hinsicht bis heute gegeben. Was die Korruption betrifft, sie ist ein weit verbreitetes Phänomen, auch in Afrika. Aber für die afrikanischen Länder muss man das aus der Tradition heraus erklären. In vielen Ethnien unterstützt die Großfamilie einen begabten Menschen mit all ihren Möglichkeiten. Wenn dieser es dann in eine gute Position geschafft hat, in der er etwas bewirken kann, tut er das häufig für seine eigenen Leute.
Mit den Missionsschulen kam also Bildung. Aber Wissen gab es schon vorher.
Unbedingt. Das spezifische Wissen einer jeden Ethnie ist immens. Aber eine Gesellschaft entwickelt sich heute eben hin zur Moderne und dazu gehört die Teilhabe durch Allgemeinbildung. Kirchlich getragene Schulen sind meines Wissens im globalen Süden bis heute sehr gut aufgestellt.
Die europäische Expansion brachte aber auch Spaltung und Krieg mit sich. Konflikte, die teilweise bis heute nachwirken.
Es ist falsch zu glauben, dass es vorher keine Spannungen gegeben hätte. Der Tribalismus sorgte schon vor den Europäern für Konflikte. Allerdings haben Kolonialisten diese ethnischen Spannungen ausgenutzt. In der sogenannten Kongo-Konferenz 1884 in Berlin wurde zum Beispiel der innerafrikanische Sklavenhandel zum Vorwand genommen, dagegen vorgehen zu müssen.
Die Rede ist immer von Kolonialisten. Welche Rolle hatten Missionare?
Zunächst einmal: Lateinamerika muss extra betrachtet werden. Da gingen die Absichten einige Jahrhunderte früher Hand in Hand. Am Beispiel von Afrika kann man sagen, dass die Missionare meist zuerst vor Ort waren. Erst in der Zeit der direkten Kolonialherrschaft nach 1884 gab es Symbiosen zwischen Kolonialismus und Mission.
Zum Beispiel, wenn sich Missionare auf die Seite der kolonialen Truppen stellten.
Es stimmt, es gab Missionare, die Kolonialisten unterstützten und dafür vom deutschen Kaiser belobigt wurden. Es gab auch Missionare, die mit den Buren in Südafrika in den Krieg zogen. Ihre Kenntnisse der Geographie, Sprache und Medizin waren nützlich. Sie waren oft Mittler zwischen den Kulturen.
Aber die christlichen Werte passen nicht zum Krieg.
Darum gelten Missionare in der Mehrheit als „Anwälte der Einheimischen“. Viele haben sich an die Seite der Ethnien und gegen die Kolonialherren gestellt. Es gab zum Beispiel einen evangelischen Missionar, Christoph Sonntag. Der hat sich am Ende sogar um Waffenlieferungen gekümmert, damit sich eine Ethnie gegen die Vertreibung von ihrem Land verteidigen konnte.
Woher stammen Ihre Quellen?
Missionare – gerade die deutschen – haben vieles aufgeschrieben. Es gibt unzählige Briefe und Tagebücher. Da kam die Liebe zur Bürokratie zum Tragen. Aber man muss kritisch vergleichen: Schreibt ein Missionar seine Meinung, schreibt er wahrheitsgetreu? Missionare, die in einem von ihrer Regierung kolonisierten Gebiet gearbeitet haben, konnten Kritik nicht immer offen äußern. Im Übrigen haben Missionare dafür gesorgt, dass viele indigene Sprachen verschriftlicht wurden und manche dadurch bis heute überlebt haben.
Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie immer mehr in die Position kämen, Missionare zu verteidigen.
Das stimmt wohl. Ich bin grundsätzlich kritisch eingestellt. Aber ich hatte einen wichtigen Moment der Erkenntnis, als ich einmal mit einem afrikanischen Bischof diskutierte. Als wir auf die Missionsgeschichte zu sprechen kamen, sagte er verwundert: „Aber ohne Missionare hätten wir doch den christlichen Glauben nicht!“. Selbst an den Universitäten in Afrika ist die Missionsgeschichte ein historisch eher unkritisches Thema. Es gibt dazu offensichtlich unterschiedliche Standpunkte. Und vor allen Dingen mehr Standpunkte als einen deutschen oder europäischen.
Aber es ist doch gut, dass in Deutschland der Blick für die Dekolonisierung so geschärft ist.
Ich beschäftige mich seit drei Jahrzehnten mit Missions- und Kolonialgeschichte. Es ist für mich eine Freude, dass das Thema in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Aber ich fordere mehr Sachlichkeit in der Debatte. Unser Blick ist zu eurozentrisch. Wichtig ist doch zu hören, was die Menschen sagen, dort, wo Missionare tätig waren oder tätig sind. Ich erinnere mich an eine katholische Missionsstation weit im Landesinneren von Togo. Dort kümmern sich Ordensschwestern um blinde und taube Kinder, die durchs Raster fallen. Was meinen Sie, wie die pauschale Missionskritik der Familien dieser Kinder ausfallen würde?
Wie steht es um die Aufarbeitung bei den Kirchen und Missionsgesellschaften in Deutschland?
Unterschiedlich intensiv. Es finden darüber hinaus überkonfessionelle Konferenzen statt. An den Universitäten gibt es Lehrstühle für Kirchengeschichte, Missionsgeschichte oder Interkulturelle Theologie – und eine Fülle an wissenschaftlichen Arbeiten und Literatur. Aber es gibt durchaus weitere Felder zu erschließen, zum Beispiel haben wir uns kürzlich bei einer Tagung mit der Zeit von 1933 bis 1945 beschäftigt. Wie haben sich Missionare und Missionsgesellschaften verhalten?
Wie bewerten Sie die Diskussionen um die Rückgabe von Kulturgütern? Auch Missionare haben solche mit nach Deutschland gebracht.
Ich hatte einmal ein Gespräch mit einem Mitarbeiter des Kulturministeriums von Botswana. Er sagte mir – und ist damit kein Einzelfall: „Zum jetzigen Zeitpunkt wollen wir diese Gegenstände nicht zurückhaben. Wir haben keinen geeigneten Ort.“ Die Museenlandschaft in Afrika ist dünn. Sicher gibt es immer wieder Überlegungen, Museen zu bauen mit Fördergeldern aus dem globalen Norden. China hat zum Beispiel in Dakar ein überdimensionales Museum finanziert – es ist längst nicht gefüllt. Aber: Wer leistet sich vor Ort den Besuch des Museums? Eine Rückführung muss gut vorbereitet sein. Andernfalls finden sich die Kulturgüter schnell auf dem internationalen Kunstmarkt wieder.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Dr. Dr. Ulrich van der Heyden (67) ist Missions- und Kolonialhistoriker sowie Afrikahistoriker und Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Afrika. Er lehrt als Privatdozent an der Freien Universität Berlin und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität. Eine Gastprofessur führt ihn oft an die University of South Africa in Pretoria. Van der Heyden veröffentlichte unter anderem rund 60 Monographien und mehr als 200 wissenschaftliche Aufsätze. Er ist im Vorstand der Berliner Gesellschaft für Missionsgeschichte e.V.