Herr Müller, der Schutz der Menschen vor Lebensgefahr gehört zum kirchlichen Kernauftrag. Welche Bedeutung hat das Kirchenasyl in diesem Zusammenhang heute?
Das Kirchenasyl steht in einer jahrhundertealten Schutztradition, aus der heraus sich seit 2014 eine Praxis entwickelt hat, die eingreift, wenn eine Abschiebung in Gefahrensituationen in einem anderen EU-Land droht. Es geht nicht darum, den Rechtsstaat in Frage zu stellen. Kirchenasyle können vielmehr einen Beitrag dazu leisten, das oberste Ziel des Rechts zu verwirklichen: den Schutz der Menschenwürde. Mit der Gewährung von Kirchenasyl tritt eine Gemeinde oder Ordensgemeinschaft zwischen Geflüchtete und die Behörden. Das schafft Zeit für weitere Verhandlungen und eine sorgfältige Überprüfung des Schutzanspruchs, um ein faires Verfahren unter Berücksichtigung aller Aspekte zu ermöglichen.
Wer hat gute Chancen auf Kirchenasyl und wer nicht?
Erstes Kriterium für die Entscheidung, ob Kirchenasyl gewährt wird, ist das Herkunftsland. Die grundsätzliche Frage ist: Hat die Person tatsächlich eine Chance auf Asyl? Kommt sie aus Ghana, dann eher nicht. Kommt sie hingegen aus Syrien, stehen die Chancen gut! Die zweite Überlegung ist: Welcher EU-Mitgliedsstaat ist gemäß Dublin-Verordnung zuständig und was würde der Person dort gegebenenfalls drohen? Generell Vorrang haben Frauen sowie Familien mit Kindern, aber auch Menschen, die aufgrund einer Krankheit zwingend auf bestimmte Medikamente angewiesen sind.
Wie hat sich die Zahl der Kirchenasyl-Fälle in den letzten Jahren entwickelt?
Die Räumung eines Kirchenasyls in Augsburg in 2014 lenkte die Aufmerksamkeit auf die zuvor nur im zweistelligen Bereich praktizierten sogenannten „Dublin-Kirchenasyle“. Bis Jahresende stieg die Zahl sprunghaft auf rund 400 Fälle. Der Höchstwert wurde 2017 mit 1 500 Fällen erreicht. Aktuell sind wir wieder etwa bei den Zahlen von 2014. Wobei das wohlgemerkt nur ein Bruchteil der gesamten Dublin-Fälle ist.
In welchen Ländern der Europäischen Union gehen Sie von besonderen Härten aus, vor denen Geflüchtete geschützt werden müssen?
Schwierig ist die Situation für Geflüchtete in vielen Randstaaten der EU, zum Beispiel in Rumänien, Bulgarien, Kroatien oder in Griechenland und Italien. Problematisch ist, dass in Klageverfahren gegen eine Rückschiebung in diese Staaten die Rechtsprechung stark differiert. Das heißt, zwei Verwaltungsgerichte kommen für ein und dasselbe Land zu unterschiedlichen Entscheidungen, weil sie die Situation vor Ort unterschiedlich einschätzen. Im Fall von Ungarn ist die Beweislage recht eindeutig, dass man dorthin niemanden zurückschicken kann. In anderen Ländern, wie Rumänien, muss man „systemische Mängel“ nachweisen, was schwierig ist. Wir hatten kürzlich den Fall eines diabeteskranken Flüchtlings, der abgeschoben wurde, obwohl die Versorgung mit Insulin dort nicht sichergestellt ist.
Wie kann das sein?
Dublin setzt voraus, dass in den Mitgliedsstaaten annähernd gleiche Bedingungen herrschen. De facto ist die soziale Situation sowie die Anerkennungspraxis jedoch höchst unterschiedlich. Wir wenden uns gegen diese „grausame Asyl-Lotterie“ – um mit der ehemaligen schwedischen EU-Kommissarin Cecilia Malmström zu sprechen – und machen in Einzelfällen darauf aufmerksam, dass die Idee des Verfahrens und die Realität nicht stimmig sind. Es reicht nicht, die EU als Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht zu bezeichnen, man muss diesen Anspruch auch mit Leben füllen!
Menschen vor Gefahr zu bewahren scheint nichts Unrechtes. Welche Umstände können dennoch zu einem Ermittlungsverfahren gegen Kirchenasylgeber führen?
Festzuhalten ist, dass eine mögliche Strafbarkeit von Kirchenasyl in der Vereinbarung zwischen Kirchen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von 2015 kein Thema war. Zwischenzeitlich verlängerte das BAMF die Überstellungsfrist gegenüber den zuständigen Mitgliedsstaaten von sechs auf 18 Monate, wenn ein Asylantragsteller sich nicht zur Überstellung in den zuständigen EU-Mitgliedsstaaten bereitgehalten, sondern stattdessen ins Kirchenasyl begeben hatte.
Begründet wurde dies damit, dass er oder sie „flüchtig“ im Sinne der Dublin-III-Verordnung sei. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch im Juni 2020 entschieden, dass Kirchenasyl nicht mit „flüchtig sein“ gleichzusetzen ist, denn der Aufenthaltsort des Betroffenen sei den Behörden ja bekannt.
Umso mehr verwundert, dass im strafrechtlichen Sinne dennoch von illegalem Aufenthalt im Zusammenhang mit Kirchenasyl die Rede ist. Ab 2017 haben in Bayern die drei Generalstaatsanwaltschaften in hunderten Fällen gegen Pfarreien und Ordensgemeinschaften wegen Beihilfe zu illegalem Aufenthalt ermittelt. Auch ich war davon betroffen. Sämtliche Verfahren wurden allerdings wegen Geringfügigkeit eingestellt.
Aktuell laufen in Bayern aber mehrere Verfahren, die noch nicht eingestellt wurden. Wie beurteilen Sie das?
Im Sommer 2020 hat erstmals die Bamberger Staatsanwaltschaft gegen die Benediktinerin Mechthild Thürmer eine Geldstrafe verhängt. Es folgten Strafbefehle gegen zwei weitere Ordensleute, Bruder Abraham Sauer und Schwester Juliana Seelmann, sowie gegen das Hallstadter Pfarrersehepaar Wittmann-Schlechtweg. Das gab es bisher nicht. Bruder Abraham aus der Abtei Münsterschwarzach musste sich als erster vor Gericht verantworten. Im Prozess Ende April 2021 hat er sich auf Glaubens- und Gewissensgründe für sein Handeln gestützt und wurde vom Amtsgericht freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte jedoch Revision ein, das Verfahren befindet sich aktuell beim Bayerischen Obersten Landesgericht. Es folgte im Juni das Verfahren gegen Schwester Seelmann vor dem Amtsgericht Würzburg. Sie wurde schuldig gesprochen und ging in Berufung. Im Grunde genommen braucht es bald ein Grundsatzurteil, um Klarheit zu schaffen.
(Anmerkung der Redaktion: Anfang November 2021 fiel die Entscheidung in einem weiteren Fall: Pastor Stefan Schörk aus Pegnitz wurde vom Amtsgericht Bayreuth zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Zudem muss er eine Geldstrafe in Höhe von 1500 Euro zahlen.)
Haben Sie den Eindruck, dass die aktuelle Situation mögliche Kirchenasylgeber abschreckt?
Nein, das Gefühl habe ich nicht. Vielleicht ist man im Umkreis von Bamberg vorsichtiger. Warum ausgerechnet dort die Handhabung strenger ist, darüber kann ich nur mutmaßen. Wenn allerdings in höherer Instanz entschieden wird, dass eine Geldstrafe rechtens ist, dann wird es sicher mehr Zurückhaltung geben. Von Bruder Abraham weiß ich, dass er das Ganze gelassen sieht. Für ihn ist es eine Frage der Zivilcourage, aber auch eine des Glaubens.