Herr Grill, Sie bezeichnen es als unsere "Jahrhundertaufgabe" Wohlstand zu "globalisieren". Ist das realistisch?
Die menschliche Geschichte ist eine ständige Auseinandersetzung mit Machtstrukturen, die man auch verändern kann. Deswegen gebe ich die Hoffnung nicht auf, trotz des momentan bedauernswerten Zustands der Welt. Ungleichheit zu beseitigen ist das Maximalziel, dem wir uns aber annähern können.
Wir müssen das Ziel hoch setzen und das Ziel ist eine gerechtere Welt. Wie bleiben Sie zuversichtlich?
Es gibt sehr viele junge Afrikaner und vor allem Afrikanerinnen, die mich optimistisch stimmen. Und was die Klimakrise angeht, sind da auf globaler Ebene Greta Thunberg und Fridays For Future. Es gibt eine junge Generation, die Fragen viel klarer und dezidierter stellt. Daher liegt meine Hoffnung auf den jungen Menschen. Auch in Afrika kann eine neue Elite die alten Machteliten, die sich vor allem durch Korruption hervortun, ablösen.
Sind Sie angesichts der bereits spürbaren Folgen des Klimawandels manchmal deprimiert?
Natürlich, denn manchmal hat man das Gefühl, wir hätten schon einen Kipppunkt erreicht. Zum Beispiel in der Sahelregion, wo seit Jahren immer härtere Dürren herrschen, sich die Wüste ausbreitet und es eine richtige Umweltmigration gibt. Menschen verlassen ihre Heimat, einfach weil die Ressourcen nicht mehr da sind – fruchtbarer Ackerboden, Weideland, Wasser. Allerdings mache ich als Afrikakorrespondent eine ständige Achterbahnfahrt durch zwischen Tagen, an denen ich zutiefst pessimistisch und solchen, an denen ich hoffnungsfroh gestimmt bin.
Was sind Dinge, die Sie wieder hoffnungsfroh stimmen?
Das können ganz verschiedene Themen sein. Eine Initiative von Landfrauen, die ein tolles Gemüsebauprojekt aufziehen oder auch junge IT-Experten in einer Großstadt, die Apps für die Landwirtschaft oder das Gesundheitssystem entwickeln. Das ist vielfältig wie das Leben.
Hoffnung im Kleinen also?
Oft im Kleinen – aber auch manchmal im Großen, wenn zum Beispiel in Tansania mit Samia Suluhu Hassan die zweite Präsidentin in der postkolonialen Geschichte Afrikas einen sensationellen Entschluss nach dem anderen fasst. Noch dazu als erste Muslima, die Präsidentin eines afrikanischen Landes ist. Das ist eine Hoffnungsträgerin.
Die haben sich in der Vergangenheit aber auch schon ...
... als Nieten entpuppt. Ja, das habe ich schon oft genug erlebt und bin dem selbst auf den Leim gegangen. Als zum Beispiel in Sambia Kenneth Kaunda abgewählt wurde, kam mit Frederick Chiluba ein Mann aus der Gewerkschaftsbewegung, ein „Mann aus dem Volk“. Er war dann aber ein korrupter, vollkommen unfähiger Staatspräsident – aus dem Hoffnungsträger wurde ein klassischer Kleptokrat. Man wird mit der Zeit sehr vorsichtig, muss Neuem aber trotzdem immer wieder eine Chance geben.
Wie sieht aus Ihrer Sicht die oft zitierte „Hoffnung für und aus Afrika“ aus?
Lösungsvorschläge gibt es jede Menge, nur müssen sie auch umgesetzt werden und das ist oft das Problem. Die Afrikanische Union hat zum Beispiel mit der Agenda 2063 einen hervorragenden Reformplan, der bei fundamentalen Dingen ansetzt und etwa in ganz Afrika die Grenzen öffnen will. Gemessen an der Zahl der Mitgliedsstaaten würde das die größte Freihandelszone der Welt schaffen. Waren, Personen und Dienstleistungen sollen ähnlich wie in der EU die Grenzen überqueren und der ökonomische Austausch angekurbelt werden.
Die Vision geht sogar bis zu einer gemeinsamen Währung. Davon hört man in Europa vergleichsweise wenig …
Man hört immer nur dann von Afrika, wenn es als Bedrohung empfunden wird, durch Migration und Flüchtlingsströme. Das ist das Unheimliche an Afrika, und dann beschäftigt man sich mit dem Kontinent.
Ist es also an der Zeit, mehr auf kluge Köpfe aus Afrika zu hören?
Ja. Aber die klugen Köpfe müssen natürlich erst einmal in die Positionen kommen, um entscheiden zu können. Es gibt ein massives Generationenproblem, der Kontinent wird von alten Männern regiert und von zähen, langlebigen Traditionen, sodass sich junge Menschen nicht entfalten können. Das geht los in der Regierung und hört auf im kleinsten Dorf, auch da bestimmen die Traditionen und die alten Männer.
Was braucht es von europäischer Seite für Afrikas Zukunft?
Es wäre wichtig, dass große Weichen gestellt werden. Ich fordere schon seit langem, dass die EU einen Afrika-Kommissar oder eine -Kommissarin bekommt. Dass man handelspolitische Weichen anders stellt. Wir leben in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem, das in der Kolonialzeit geschaffen und durch Raubtierkapitalismus noch unfairer geworden ist. Es braucht mehr Initiativen wie das Lieferkettengesetz. Aber Afrika selbst muss sich natürlich auch einigen. Innerhalb der Afrikanischen Union gibt es diese Kämpfe zwischen frankofon und anglofon: Westafrika neigt sich Frankreich zu, Ostafrika mehr Großbritannien. Und das Gerangel um die Führungsmacht auf dem Kontinent zwischen Südafrika, Nigeria, Ägypten und Kenia.
Was halten Sie von Chinas Engagement in Afrika?
Das ist sehr ambivalent. Einerseits plündert es die Rohstoffe des Kontinents, überschwemmt Afrika mit Billigwaren, treibt manche Länder in eine neue Schuldenfalle – andererseits sind da durchaus sinnvolle Megaprojekte, ob Mobilfunknetz oder Straßenbau. Da haben die Chinesen in 20 Jahren mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in 60 Jahren. Den Vorwurf des Neokolonialismus finde ich insofern unsinnig, weil sich China, im Gegensatz zu einer Kolonialmacht, nicht in die Politik der Länder einmischt.
Diese Vergangenheit beschäftigt uns in Deutschland gerade sehr.
Wir haben die Kolonialgeschichte lange Zeit verdrängt und beschönigt, arbeiten sie eigentlich erst jetzt im Zusammenhang mit der Rückgabe von kolonialen Raubgütern aus unseren sogenannten Völkerkundemuseen auf. Diese Auseinandersetzung ist längst fällig. Wir sollten aber vor allem anderen lernen, Geschichte auch aus der Perspektive des globalen Südens zu betrachten und dürfen nicht vergessen, diesen Blick in unsere Geschichtslehrbücher einfließen zu lassen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer Wahlheimat Afrika?
Vernünftigere Regierungen. Samia Suluhu Hassan in Tansania ist ein Glücksfall – aber zum Beispiel Südafrika, als reichstes Land des Kontinents, wird in Grund und Boden gewirtschaftet. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt vermutlich bei sechzig Prozent, Perspektiven fehlen, es drohen massive soziale Unruhen. Und die Regierung verschenkt Potenziale: Südafrika hätte schon vor Jahrzehnten in erneuerbare Energien investieren können, wie viele afrikanische Länder hat es unendlich viel Sonne und Wind. Was wir jetzt haben, ist jeden Tag Stromausfall, heruntergewirtschaftete alte und riesige neue Kohlekraftwerke – gebaut mit der Rechtfertigung, man sei bisher nicht der Hauptverursacher des Klimawandels gewesen. Dabei könnte man den Irrtum fossiler Energien überspringen. So ein Umdenken wünsche ich mir. Nach 30 Jahren im Land wird man ja selber irgendwie Südafrikaner.