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23. April 2020
Interview:   Bettine Kuhnert
Interview mit Passionsspielleiter Christian Stückl

"Die Frage ist: Was ist Tradition?"

Im Jahr 1633 gelobten die Oberammergauer, regelmäßig ein Passionsspiel aufzuführen, wenn sie von der Pest befreit würden. Jetzt wurden die 42. Oberammergauer Passionsspiele wegen der Corona-Pandemie verschoben. Anstatt 2020 fanden sie 2022 statt – bereits zum vierten Mal unter der Regie von Christian Stückl. Seit der gebürtige Oberammergauer 1987 zum jüngsten Spielleiter in der Geschichte des Passionstheaters ernannt wurde, hat sich einiges verändert.
23. April 2020
Text: Bettine Kuhnert   Oberammergauer Passionsspiele

Herr Stückl, Passionsspiele gibt es in vielen Ländern weltweit, häufig eingeführt von christlichen Missionaren. Oft hat sich eine lokaltypische Fassung durchgesetzt und bewahrt. Wie erklären Sie sich dieses offensichtliche Bedürfnis nach einer theatralischen Darstellung der Geschichte?

Für die Kirche ist das Passionsspiel natürlich ein Mittel der Glaubensverbreitung, die auch Nicht-Kirchgängern oder Analphabeten gut zugänglich ist. Die innerhalb der Bevölkerung zugrundeliegende Motivation kann sehr unterschiedlich und vielleicht auch nicht immer nachvollziehbar sein. Für manche mag die Faszination auch im Miterleben des zur Schau gestellten Leidens liegen. Im indischen Mariapuram, einem Dorf nahe Bangalore, hatte ich selbst Gelegenheit, ein solch weltkirchliches Passionsspiel zu erleben. Es fand auf einem riesigen Feld statt, in einer Umgebung, in der überwiegend Hindus leben. Der Stil der indischen Filme macht auch vor dem Theater nicht halt: Über Lautsprecher wurden Lieder im Bollywood-Stil übertragen, die Schauspieler sangen Playback und Maria trug einen Sari. Beim anschließenden Feldgottesdienst gab es spontane Krankenheilungen mit Leuten, die aus ihrem Rollstuhl aufgestanden sind.

Ist die dortige Tradition durch Oberammergau inspiriert?

Ja, ein indischer Priester hat von einer Delegationsreise den Originaltext von 1930 aus Oberbayern mit nach Indien gebracht. In Mariapuram sieht man durchaus eine Adaption an die dortigen Gegebenheiten. Andererseits sind die Bilder und Figuren in ihrer Darstellung sehr europäisch. Das könnte auch ein Grund sein, dass die dortige Aufführungspraxis allmählich auszusterben droht.

Vielleicht fehlt es in Mariapuram an einer zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Stoff, die den Leuten in ihrem Leben etwas zu sagen hat, aber liegt es nicht auch am gesellschaftlichen Klima unter der Regierung Modi?

Den Christen geht es im Vergleich zu den Muslimen noch gut in Indien. Durch meine vielen Reisen nach Indien habe ich dort einen engen Freundeskreis. Tatsächlich merke ich – obwohl die Leute unterschiedlichen Religionen angehören und grundsätzlich liberal eingestellt sind –, dass sich die Stimmung ändert. Die politisch angespannte Situation wird durch Probleme, die der Klimawandel mit sich bringt, noch verschärft.

Was gefällt Ihnen so an Indien, dass Sie jedes Jahr dorthin fahren?

Ganz ehrlich – ich weiß es nicht. Ich habe mich einfach in Indien verliebt. Spannend fand ich schon beim ersten Kontakt, dass Indien, trotz der langen Kolonialgeschichte, seine eigene Kultur und Religion in ihrer Lebendigkeit bewahrt hat. Ich selbst bin Alpenländer. Aber erst dort habe ich gemerkt, wie katholisch ich sozialisiert bin. Für mich war es eine Möglichkeit, andere Perspektiven kennenzulernen und Glaubenssätze zu relativieren, etwa was Erwartungen an Liebe, Ehe oder Wohnverhältnisse angeht.

Zurück zum Theater: Was interessiert Sie als Regisseur an religiösen Themen?

Normalerweise interessiert Religion im Theater mehr in ihrer Abwegigkeit. Wesentlich relevanter scheint mir die Religion, die die Figuren in sich tragen, ihr Glaube, der in ihrem Handeln und Zweifeln zum Ausdruck kommt. Auch die Unfähigkeit derMenschen mit Religion umzugehen, ist faszinierend. Im Grunde kann man Jesus als Gescheiterten betrachten: Nichts von seinen Werten und Postulaten ist realisiert. Vielmehr wurden und werden zum Teil heute noch in seinem Namen Gräueltaten begangen. Er hat den Weg zur Erlösung gezeigt, aber wir sträuben uns. Es will niemand die andere Wange hinhalten. Dieses menschliche Drama, aber auch die Religion als Konfliktstoff in unserer Gesellschaft sind für mich interessant.

Hatten Sie den Eindruck, dass sich in den Inszenierungen der Passion Christi, die Sie gesehen haben, der gesellschaftliche Wandel widerspiegelt – so wie es Ihr Anspruch ist?

Ich denke, es herrscht oft Ratlosigkeit, wie die Geschichte heute zu erzählen ist. Mit einem pauschalen Urteil tue ich mich hier schwer, zumal einige der Aufführungen auch schon zehn Jahre oder länger zurückliegen. Ich selbst bin erst jetzt, beim vierten Mal, mutiger, was zum Beispiel die Jesus-Darstellung angeht. Meist wird diese Figur so ,heilig‘ dargestellt, vollkommen glattgebügelt. Ursprünglich waren Passionsspiele gewissermaßen Propagandainstrumente der Kirche und dienten der Verbreitung dieses Bildes. Dabei war dieser junge Mann extrem fordernd, genau das Gegenteil von glattgebügelt. Es gilt also, ihn wieder auf die Welt runterzubringen.

Was wünschen Sie sich, was Menschen – egal ob Durchschnittsbürger oder hochrangiger Politiker – aus Ihren Passionsspielen mitnehmen?

Natürlich ist es mir ein Anliegen, den Leuten die Geschichte nahezubringen, obwohl sie schon so viele Male erzählt wurde. Deshalb rücke ich nicht die Leidensgeschichte Jesu in den Vordergrund, sondern seine Lebensgeschichte. Für mich liegt der Fokus auf der Auseinandersetzung und der Arbeit mit den Akteuren. Mir ist der Umgang mit der eigenen Geschichte der Aufführungspraxis wichtig. Dafür möchte ich ein Verständnis unter den Schauspielern entwickeln. Wir bereiten uns sehr intensiv vor, viel intensiver als sonst im Theater üblich. Dazu gehören auch Recherchereisen nach Israel und Treffen mit Religionsvertretern. Meine Arbeit endet jedoch am Tag der Premiere. Was auf wen überspringt, hat man nicht im Griff.

In welchem Verhältnis stehen für Sie die Tradition der Aufführungspraxis in Oberammergau einerseits und eine regelmäßige Erneuerung andererseits?

Die Frage ist: Was ist Tradition? De facto gab es alle dreißig Jahre eine neue Bühne und einen neuen Text. Mit dem aufkommenden Tourismus entstand die Angst vor einer Erwartungshaltung der Besucher. Man wollte das Geschäft nicht gefährden. Tatsächlich erreichen mich immer wieder negative Reaktionen auf Veränderungen. Wenn etwa Hardliner sich daran stören, dass ich verheiratete Frauen als Maria zugelassen habe. Dennoch bin ich der Überzeugung: Die Spiele haben überlebt, weil sie sich von Generation zu Generation verändert haben. Die Tradition kann nur bewahrt werden, wenn junge Leute bereit sind mitzumachen. Aktuell haben wir keine Schauspieler zwischen 50 und 70. Dieses Generationenloch ist symptomatisch für die Versäumnisse, die es gab. Ich bin daher ein Verfechter der Tradition der Erneuerung.

Passion 2020 nachgefragt bei Christian Stückl Passionsspiele Oberammergau 2020 Gabriela NeebChristian Stückl, Foto: Passionsspiele Oberammergau 2020 / Gabriela Neeb

ZUR PERSON
Christian Stückl wurde 1961 in Oberammergau geboren und war zwischen 1987 und 1996 an den Münchner Kammerspielen tätig. Im Anschluss arbeitete er als freier Regisseur, unter anderem in Hannover, Frankfurt, Wien und Bonn. Seit 2002 ist er Intendant am Münchner Volkstheater. Für seine Inszenierungen der international bekannten Passionsspiele erhält der Theatermann am 13. Mai 2020 den mit 10.000 Euro dotierten Abraham-Geiger Preis. Damit würdigt die Jury insbesondere seine ausgewogene Darstellung innerjüdischer Konflikte. Diese sei ein Plädoyer gegen Rassismus und Antisemitismus und für eine pluralistische Gesellschaft, heißt es in der Begründung. Die Auszeichnung ehrt Persönlichkeiten, die sich für Offenheit, Mut, Toleranz und Gedankenfreiheit einsetzen. Mehr: www.passionsspiele-oberammergau.de und www.abraham-geiger-kolleg.de

 

 

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