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08. April 2025
Reportage:   Antje Pöhner   Fotos: Jörg Böthling
Reportage aus Äthiopien

Neues Leben – Große Hoffnung

Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist in den ländlichen Gebieten Äthiopiens besorgniserregend. Krankenhäuser und Arztpraxen gibt es meist nur in den größeren Städten. Für die Menschen auf dem Land ist der Weg dorthin beschwerlich und oft unerschwinglich. Die Schwestern des Ordens „Maids of the Poor“ haben im Süden Gesundheitsstationen und Kliniken gegründet, in denen all diejenigen behandelt werden, die sich keine Versorgung leisten können. Zum Alltag der Ordensfrauen gehört auch der Kampf gegen die grausame Tradition der weiblichen Genitalverstümmelung.
08. April 2025
Text: Antje Pöhner   Fotos: Jörg Böthling

ÄTHIOPIEN, Zentraläthiopien, Hosaena, Dorf Jajura, Krankenhaus des Schwesterorden Maids of the Poor, Entbindungsstation, Frau Burtukan (23) mit Baby Bethlehem und Mann ErijaboBurtukan und ihr Mann Erijabo mit Baby Bethlehem.DER JUBEL und die trällernden Gesänge von draußen sind im Nachsorgezimmer der kleinen  Geburtsstation auf dem Gelände des Jajura Healthcenters im Süden Äthiopiens deutlich zu hören. Die 23-jährige Burtukan sitzt auf einer Liege in dem spärlich eingerichteten Raum, ihr in  Tücher gewickeltes Neugeborenes fest im Arm. Auf den Klappbetten links und rechts von ihr  ebenfalls zwei junge Mütter. Alle drei haben vor wenigen Stunden im Geburtszimmer nebenan ihre Babys zur Welt gebracht, für jede von ihnen war es die erste Entbindung. Burtukan lächelt  verlegen, als ihr Ehemann Erijabo den Raum betritt und sich neben sie auf die Liege setzt.  Unbeholfen streichelt er seiner kleinen Tochter über die Stirn. Die beiden haben sich für sie den Namen Bethlehem ausgesucht.

Vor der Tür feiert Burtukans Mutter mit Freundinnen die Geburt ihres ersten Enkelkindes. Sie  haben sich mit den Familienmitgliedern der beiden anderen Frauen zusammengetan, haben ihre  Körbe voller Essen im Gras abgestellt und singen und klatschen begeistert, um die Neugeborenen zu begrüßen und die Mütter zu bejubeln.  „Für die Menschen hier ist neues Leben einfach etwas  großartiges“, sagt Schwester Meskel Kelta, die sich zu den Feiernden gesellt hat. Die 45-Jährige ist die Koordinatorin der fünf Kliniken und Gesundheitsstationen ihres Ordens der „Maids of the Poor“, der „Dienerinnen der Armen“. Sie selbst ist in der rund zweieinhalb Autostunden weiter südlich  gelegenen Humbo-Klinik stationiert. In dieser Woche ist sie zu einer Besprechung nach Jajura gereist: regelmäßig berät sie sich mit ihren Mitschwestern und dem medizinischen Personal in den einzelnen Gesundheitsstationen. 

„Wir schicken keinen weg, der Hilfe braucht“ 

ÄTHIOPIEN, Zentraläthiopien, Hosaena, Dorf JajuraKaum jemand in Jajura könnte sich eine medizinische Versorgung in der nächstgrößeren Stadt leisten.Die Jajura-Klinik liegt am Rande der gleichnamigen Kleinstadt, in der es keine asphaltierten Straßen gibt. Vor dem Eingangstor grasen Ziegen. Dahinter befinden sich auf  weitläufigem begrüntem Gelände fünf kasernenartige Gebäude, in der eine Augenklinik, das Geburtshaus, eine Apotheke, Laborräume, eine Isolierstation und drei  Krankenzimmer mit insgesamt 21 Betten untergebracht sind. „Mindestens 60 Patienten werden täglich hier behandelt“, berichtet Schwester Meskel, nachdem sie sich von den feiernden Frauen mit Umarmungen und lauten Grüßen verabschiedet hat. „Sehr oft haben wir es mit Malaria zu tun, auch Tuberkulose ist nicht selten. Dazu  Mangelernährung, Viruserkrankungen, Nierenkoliken und schwere Entzündungen. Unsere Kliniken sind für die Menschen die einzige Möglichkeit, überhaupt medizinisch behandelt zu werden“, sagt sie. „Das nächste große Krankenhaus ist viele Kilometer weit entfernt und die Behandlung kostet mehr, als sich die meisten leisten können. Bei uns wird auch der aufgenommen, der kein Geld hat. Wir schicken keinen weg, der Hilfe braucht.“

Sie winkt ihre Mitschwester Abenit Haile zu sich, die Leiterin der Jajura- Gesundheitsstation. Wie Schwester Meskel hat auch sie eine fünfjährige Ausbildung zum sogenannten Health Officer absolviert und darf somit Krankheiten  diagnostizieren, Medikamente verschreiben und kleine Operationen ausführen. Sie ist es, die die drei jungen Mütter bei ihren Entbindungen in der vergangenen Nacht gemeinsam mit einer Hebamme medizinisch begleitet hat. Die beiden Frauen werden ernst: „So ausgelassen wir jetzt hier die Stimmung vor der Neugeborenenstation  auch erleben mögen, so ernst ist doch die Lage der Frauen“, sagt Schwester Abenit: Ein großes Problem in den Kliniken ist die weibliche Genitalverstümmelung.

Komplikationen durch Beschneidung

ÄTHIOPIEN, Zentraläthiopien, Hosaena, Dorf Jajura, Krankenhaus des Schwesterorden Maids of the Poor, Gruppenbild mit Schwester Meskel Kelta und MitarbeiternSchwester Meskel (Mitte) und Schwester Abenit (rechts von ihr) mit dem Team der Jajura-Gesundeheitsstation.„Die Frauen, die bei uns entbinden, sind fast ausnahmslos  beschnitten“, berichtet Schwester Abenit und schildert, was das gerade für Schwangere bedeutet. „Die Frauen müssen vor der Geburt aufgeschnitten und anschließend wieder zugenäht werden. Es ist schrecklich für die Frauen und es führt oft auch zu  Komplikationen.“ Obwohl weibliche Genitalverstümmelung in Äthiopien offiziell verboten ist, ist die blutige Tradition in der  Gesellschaft noch tief verankert. „Alle machen mit, egal welcher  Religion sie angehören“, informiert Schwester Meskel. „Eine Beschneidung suggeriert noch immer Reinheit und Unschuld. Viele  Familien haben Angst, dass ihre Töchter sonst keine Ehemänner  finden. Wir kämpfen dagegen, versuchen aufzuklären und die großen Gefahren aufzuzeigen - aber in den allermeisten Fällen vergebens. Kurz nach der Geburt beteuern uns viele Frauen, ihre Töchter auf keinen Fall beschneiden zu lassen. Und dann, wenn die Mädchen  älter sind, tun sie es doch. Der gesellschaftliche Druck ist einfach zu groß.“

ÄTHIOPIEN, Zentraläthiopien, Hosaena, Dorf Jajura, Krankenhaus des Schwesterorden Maids of the Poor, Plakat gegen weibliche GenitalbeschneidungIn den überdachten Wartebereichen und im Geburtszimmer haben die Schwestern Plakate aufgehängt, die vor der Beschneidung warnen. Für die, die nicht lesen können, veranschaulicht eine Zeichnung, wie gefährlich das Ritual ist. „Die Frauen leiden ständig, auch im täglichen Leben, beim Gang auf die Toilette, beim Sex - einfach immer“, mahnt Schwester Abenit. „Aber hier in der Gegend um Jajura sind alle Frauen beschnitten. Ich würde vermuten, fast zu 100 Prozent.“ Mit ernsten Mienen gehen die beiden Ordensschwestern zurück zu den Familien der jungen Frauen. Als Burtukan aus der Tür des Nachsorgezimmers tritt, brandet Jubel auf. Ihre Mutter eilt herbei, um ihr Bethlehem abzunehmen. Erijabo führt seine Frau vorsichtig über das unebene Klinikgelände hin zum großen Eingangstor. Vor der Klinik wartet schon das Motorradtaxi, das Eijabo sich zur Feier des Tages leistet: Der Fahrer soll seine Frau und ihn nach Hause bringen. Ein eigenes Transportmittel besitzt hier in der Gegend kaum jemand. Vorsichtig nimmt Burtukan im Damensitz hinter dem Fahrer Platz. Sie lächelt tapfer, als sich das Zweirad auf dem unebenen Feldweg in Bewegung  setzt. Ihre Tochter Bethlehem wird von der Großmutter stolz nach Hause getragen. Das Geld reicht nur für die eine Motorradfahrt. 

Schwierige Hygienebedinungungen

ÄTHIOPIEN, Zentraläthiopien, Hosaena, Dorf Jajura, Krankenhaus des Schwesterorden Maids of the Poor, Entbindungsstation, nach erflogreicher Entbindung Fahrt mit dem Motorrad Taxi nach Hause, Frau Burtukan (23) mit Baby Bethlehem und Mann ErijaboBurtukan wird wenige Stunden nach der Geburt ihrer Tochter per Motorradtaxi nach Hause gebracht.Darüber, was die junge Frau zuhause erwartet, gibt Schwester Meskel einen kleinen Einblick. „Wir dürfen die Situation der Frauen hier nicht mit Standards in Europa vergleichen. Für Hygieneartikel wie Einlagen und Binden haben die Familien kein Geld. Auch die Toilettensituation ist natürlich eine andere. Oft teilen sich mehrere  Familien ein Plumpsklo. Für Frauen in den Wochen nach der Entbindung keine gute Situation.“ Was die Schwestern für die Frauen tun können, ist es, ihnen Tipps an die  Hand zu geben, wie sie ihre Wunden auch unter prekären Umständen versorgen können. Sie überlassen den Frauen ein paar Binden und Desinfektionsmittel für Zuhause  und bieten ihnen an, bei Komplikationen jederzeit wiederzukommen.

Burtukan war  auch schon während ihrer Schwangerschaft einige Male zur Kontrolle im Jajura-Healthcenter. Per Ultraschall hat Abenit Haile überprüft, ob alles in Ordnung  ist. „Für Kaiserschnitte müssen wir die Frauen ins teurere Krankenhaus in die nächstgrößere Stadt schicken“, bedauert die Schwester und fügt hinzu: “Viele  Frauen entbinden auch Zuhause, ohne jegliche vorhergehende Kontrolle. Die Müttersterblichkeit in Äthiopien ist entsprechend groß“. Die Schwestern der „Maids of the  Poor“ sind froh, dass Burtukan und die beiden anderen Frauen von ihren Familien zur Entbindung rechtzeitig in die Gesundheitsstation gebracht wurden. „Und vielleicht“,  so hofft Schwester Abenit am Abend, „hat ja dieses Mal unser Flehen gefruchtet und Bethlehem und den beiden anderen Mädchen bleibt später eine Beschneidung  erspart. Das wäre für uns der größte Segen.“

Die brutale "Tradition der weiblichen Beschneidung

Weibliche Genitalverstümmelung (auf Englisch „Female Genital Mutilation“, kurz FGM) ist eine grausame Praxis, von der Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge weltweit  mehr als 230 Millionen Mädchen und Frauen betroffen sind. Trotz Verboten ist die „Tradition“ der Genitalverstümmelung in vielen Ländern Afrikas und auch in Teilen Asiens und des Nahen  Ostens noch heute verbreitet. In Äthiopien steht FGM seit dem Jahr 2004 unter Strafe. Dennoch ist Genitalverstümmelung in Teilen der Gesellschaft tief verwurzelt und wird weiter  praktiziert.

Die WHO fasst unter dem Begriff „weibliche Genitalverstümmelung" alle Praktiken zusammen, bei denen die äußeren weiblichen Geschlechtsorgane teilweise oder ganz entfernt werden  oder aus nichtmedizinischen Gründen auf andere Weise verletzt werden. In Äthiopien gibt es FGM sowohl auf dem Land wie in der Stadt – mit Ausnahme der Region um Gambella und  einiger ethnischer Gruppen ganz im Süden des Landes. Das Alter, wann Mädchen beschnitten werden, variiert von Region zu Region und auch innerhalb der ethnischen Gruppen vom  Säuglings- bis hin zum frühen Erwachsenenalter.

Der WHO zufolge umfassen die Gründe für weibliche Genitalverstümmelung „eine Mischung soziokultureller Faktoren innerhalb von Familien und Gemeinschaften“: Starke Motivation, die Praxis aufrechtzuerhalten sei oft der soziale Druck, die soziale Akzeptanz und auch die Angst, von der Gemeinschaft abgelehnt zu werden. FGM werde oft als notwendiger Teil der Erziehung von Mädchen angesehen, um sie auf das Erwachsenenleben und die Ehe vorzubereiten. Die Praxis der weiblichen  Genitalverstümmelung wird in keiner religiösen Schrift erwähnt oder vorgeschrieben.