Skip to main content
27. März 2024
Interview:   Christian Selbherr
Interview mit Jean Ziegler

„Ich glaube an Auferstehung“

„Wie kommt der Hunger in die Welt?“ - so lautet eines der Lebensthemen des Schweizer Soziologen Jean Ziegler, der lange für die Vereinten Nationen tätig war und der mit seinen Büchern zur globalen (Un-)Gerechtigkeit ein großes Publikum erreicht. Am 19 April wird er 90 Jahre alt.
27. März 2024
Text: Christian Selbherr   Penguin Verlag

Ihr aktuelles Buch erschien erstmals vor 25 Jahren. Ist es nicht traurig, dass sich so wenig gebessert hat?
Vieles ist schlimmer denn je! Der Massenmord des Hungers ist immer noch der Skandal unserer Zeit. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren auf diesem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Wenn es ein Recht auf Nahrung gäbe, und ein weltweites Völkerrecht auf Nahrung internationale Regeln schaffen würde, dann könnte die Nahrung gerecht verteilt werden. Die Weltlandwirtschaft könnte heute schon problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren, fast das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.

Aktuell ist der Hunger auch als Kriegswaffe zurück.
Wenn Sie sehen, was in Gaza passiert: Da leben 2,8 Millionen Menschen auf 365 Quadratkilometern. Gaza ist wahrscheinlich die am dichtesten bevölkerte Region der Welt. Am 7. Oktober 2023 haben die islamistischen Kämpfer der Hamas Israel angegriffen, sie haben Menschen ermordet, Geiseln genommen. Fürchterliche Verbrechen, die total unentschuldbar sind. Ich muss aber von dem fürchterlichen Rachefeldzug reden, der als Antwort erfolgt ist.

Mit welchen Folgen?
Eine der wichtigsten Waffen dabei ist die Blockade. Eine Blockade für Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente und Treibstoff. Die Nahrungsmittelzufuhr in Gaza ist total unterbrochen, außer von einigen wenigen Lastwagen, die so gut wie nichts ausrichten können. Menschen sterben am Hunger. Was noch schlimmer ist: Die Hungerblockade bringt die Zerstörung einer ganzen Generation von Kindern, die schwerst unterernährt aufwachsen. Das ist eine fürchterliche Waffe. 

Welchen Ausweg sehen Sie?
Es braucht sofort einen permanenten Waffenstillstand. Dazu Verhandlungen zur Freilassung der israelischen Geiseln. Und Schaffung eines Dialoges, um dann die Nahrungsmittelzufuhr in Gaza wiederherzustellen. Die öffentliche Meinung der Welt muss das verlangen! Georges Bernanos hat gesagt: Gott hat keine anderen Hände als die unseren.

Wir tun uns schwer damit, weil wir aufgrund unserer Geschichte eine besondere Verantwortung für Israel haben.
Antisemitismus ist ein Verbrechen! Wer die Shoa negiert und antisemitisch sich äußert oder verhält, begeht ein strafrechtlich verfolgbares Delikt. Das hat aber nichts zu tun mit dem Protest gegen den Völkermord in Gaza. Dass dort solche fürchterlichen Verbrechen Tag und Nacht geschehen und kein Ende in Sicht ist. Und die Hungersnot wütet fürchterlich. Das hat übrigens auch nichts zu tun mit der jüdischen Religion. Die jüdische Religion ist eine Religion der Gerechtigkeit und der Menschenliebe, wie auch die christliche. 

Ich wollte Sie eigentlich nach Ihrem runden Geburtstag fragen.
Darüber möchte ich ja eigentlich nicht reden ... 

Wie schauen Sie auf den Neunzigsten?
In großer Dankbarkeit. Aber auch mit etwas Angst vor dem Tod. Aber ich glaube an die Auferstehung. Es gibt so viel Liebe auf der Welt. Der Guerillero, der sein Leben opfert für die Gerechtigkeit. Die Liebe, die man empfindet zu einem Kind, oder für eine Frau. Diese unendliche Liebe, die kommt ja von irgendwoher. Ich muss an Dietrich Bonhoeffer denken, der im Konzentrationslager inhaftiert war, weil er Gerechtigkeit für die Juden gefordert hat. Bonhoeffer hat am Vorabend seiner Hinrichtung ein Schriftstück hinterlassen. Da steht: „Morgen werde ich sterben. Aber ich weiß, ich bin erwartet.“ Und das glaube ich auch. Ich bin erwartet. Von meinen Eltern. Von meinen Freunden. Ich löse mich nicht in nichts auf. Ich verschwinde nicht aus der Geschichte.

Alles Gute für Sie, lieber Herr Ziegler!
Ich danke Ihnen für die jahrelange freundschaftliche Solidarität. Gott sei Dank gibt es missio!

Buchtipp:
„Wie kommt der Hunger in die Welt – Antworten auf die Fragen meines Sohnes“ erscheint in neuer Ausgabe und mit einem aktuellen Vorwort, das Jean Ziegler angesichts der Entwicklungen in Syrien, in der Ukraine und in Gaza geschrieben hat. 
Penguin Verlag, 13 Euro

Der missio Newsletter

Gerne möchten wir mit Ihnen in Kontakt bleiben und Ihnen zeigen, was weltweit dank Ihrer Hilfe möglich ist.

 Newsletter abonnieren

 missio Newsletter