Birhan lebt mit ihrem heute fünfjährigen Sohn Adam im Sebacare IDP-Camp am Rande von Tigrays Hauptstadt Mekelle.DASS SIE JEMALS WIEDER in Frieden leben kann, davon hat Birhan lange nicht zu träumen gewagt. Und auch jetzt, mehr als zwei Jahre nach dem Ende des Krieges, hat die junge Frau kaum Hoffnung, dass das Leben wieder annähernd so werden könnte, wie es einmal war. Die 33-Jährige lebt im Sebacare IDP Camp am Rande von Tigrays Hauptstadt Mekelle, einem der größten Geflüchtetencamps in der Region. IDP steht für „Internally Displaced People“: Binnenvertriebene.
Rund 12.000 Frauen, Männer und Kinder wohnen hier in Unterkünften aus Plastikplanen, Wellblech, Metall- und Holzgestellen – viele von ihnen schon seit mehr als vier Jahren. Sie alle können nach dem Bürgerkrieg nicht zurückkehren in ihre Heimatstädte und -dörfer, weil sie zerstört, besetzt oder in Teilen noch immer umkämpft sind. Doch auch wenn sie es könnte –Birhan ist sich nicht sicher, ob sie jemals wieder heimkehren möchte. Zu schwer lasten auf ihr die Erinnerungen an jene Tage, als die Kämpfer ihr bisheriges Leben zerstörten. „Mein Vater wurde vor meinen Augen erschossen, meinen Ehemann haben sie niedergeprügelt und weggeschleppt. Bis heute habe ich kein Lebenszeichen von ihm“, erzählt sie mit leiser Stimme. Sie selbst habe in Panik ihr Baby Adam an sich gerissen, habe sich im Gebüsch versteckt und sei dann gelaufen, einfach gelaufen.
40 Tage war sie zu Fuß unterwegs. „Ich hatte gehört, dass ich in Richtung der Hauptstadt Mekelle gehen sollte. Das habe ich gemacht.“ Knapp 900 Kilometer hat sie mit ihrem Sohn zu Fuß zurückgelegt. Darüber, was genau ihr während der Flucht widerfahren ist, will sie bis heute nicht sprechen. „Ich hatte nichts zu essen, nichts zu trinken. Ich habe so viele Leichen gesehen“, flüstert sie und senkt den Kopf. Birhan kam mit Adam zunächst in einer Schule unter. Mit 80 anderen Geflüchteten schliefen sie zusammengepfercht auf dem Boden eines Klassenzimmers, irgendwann wurde sie dann hierher ins Sebacare-Camp gebracht. Wenn Birhan sich an die erste Zeit nach der Flucht zurückerinnert, beschreibt sie einen monatelangen Dämmerzustand, in dem sie es gerade so schaffte, genug Essen für sich und das Kind zu beschaffen.
Hilfe durch Traumabewältigung
Schwester Lettegabriel mit Kindern von Geflüchteten vor dem St. Joseph Kindergarten.Heute geht es Birhan besser. Sie sitzt im Camp in einem der beiden großen Zelte des St. Joseph Kindergartens mit dem Psychologen Kansay Weldeslase zusammen. Die Schwesterngemeinschaft der Daughters of Charity hat hier eine provisorische Vorschule eingerichtet. Adam wird in einem mit einer Plastikplane abgetrennten Nebenraum betreut. Projektchefin Schwester Lettegabriel Dirita Abraha und ihre Mitschwestern kümmern sich um bis zu 400 Kinder, die hier spielen, lernen und psychologisch betreut werden. Für die Mütter und Väter haben die Ordensschwes
tern ebenfalls bescheidene Hilfsangebote organisiert.
Es gibt Trinkwasser in kleinen Plastikflaschen und Kekse gegen den größten Hunger. Auch die Therapiesitzungen mit dem Psychologen Kansay sind Teil der Hilfe: „Die Geflüchteten sind schwer traumatisiert. Viele von ihnen haben Folter und Vergewaltigungen erlebt. So viele Menschen mussten mitansehen, wie Angehörige gequält, massakriert und getötet wurden“, sagt er. Auch Birhan hat ihm ihre Qualen anvertraut. Heute ist sie mit einer großen Schüssel voller gerösteter Erdnüsse zu dem Treffen gekommen. Seit ein paar Monaten hat sie sich – unterstützt von der Schwesterngemeinschaft – mit dem Verkauf ein kleines Business aufgebaut. Nach ihrem Gespräch mit dem Psychologen führt sie Schwester Lettegabriel zu ihrem kleinen Zelt in der Nähe und zeigt ihr stolz ihr sorgfältig eingerichtetes neues Zuhause mit einem Bett und einer Anrichte mit Plas tikbehältern voller Öl, Wasser und Mehl. Die dicken Planen hat sie mit bunten Stoffen verkleidet.
Für Schwester Lettegabriel sind Frauen wie Birhan ein Hoffnungsschimmer in all der Trostlosigkeit der Nachkriegszeit. „Sie hat es geschafft, aus einem absoluten Tief herauszukommen“, erzählt Lettegabriel. Als sie sie kennengelernt habe, habe sie unter schweren Depressionen gelitten. Medikamente und psychologische Hilfe hätten Birhan wieder auf die Beine geholfen.
Zugang zu sauberem Trinkwasser
Die Heimatstädte und -dörfer der Flüchtlinge sind zerstört, besetzt oder in Teilen noch immer umkämpft.Die Schwestern des Ordens der Daughters of Charity leisten seit vielen Jahrzehnten humanitäre Hilfe in Tigray, gründeten unter anderem Programme zur Frauenförderung, organisierten Schulspeisungen, unterhalten Kindergärten, Grundschulen und Kliniken. Als der Krieg im November 2020 begann, Hilfsorganisationen aus Sicherheitsgründen die Region verlassen mussten und Hilfslieferungen blockiert wurden, blieben die Schwestern vor Ort und arbeiteten weiter. „Wir lebten in ständiger Angst, getötet zu werden“, erzählt Schwester Medhin Tesfay, Koordinatorin und Leiterin der Hilfsprojekte bei den Daughters of Charity. „Es gibt keine Worte dafür, was hier passiert ist. Die Menschen, die überlebt haben, sind gebrochen durch das Leid, das sie mitansehen und durchmachen mussten.“ Dass sie und ihre Mitschwestern jetzt geflüchteten und traumatisierten Menschen wie Birhan nach dem Krieg den Weg in ein Leben in Frieden und Würde ermöglichen und gleichzeitig einen Großteil ihrer Projekte fortsetzen können, das ist ihr größter Antrieb.
In diesen Tagen ist Schwester Medhin regelmäßig in den Dörfern und Siedlungen rund um Mekelle unterwegs, um eines ihrer Herzensanliegen zu betreuen: den Menschen den Zugang zu sauberem Wasser zu ermöglichen. Bereits vor dem Krieg hatten die Ordensfrauen den Bau von Brunnen, Toiletten und Waschbecken in Dörfern und an Schulen organisiert. Heute macht sich Schwester Medhin mit einem Team an Ingenieuren und Facharbeitern auf dem Gelände der zum Flüchtlingscamp umfunktionierten Hawelti Secondary School am Stadtrand von Mekelle ein Bild über den Zustand der Anlagen. Noch immer sind mehr als 700 Flüchtlingsfamilien hier untergebracht – auch ihre Zukunft ist wegen der anhaltenden Kämpfe in ihren Heimatregionen ungewiss. Schnell ist Schwester Medhin umringt von Frauen und Kindern, die ihr alle die Hand schütteln und sich bei ihr für die Unterstützung bedanken. Dass die Schwestern in der größten Not und Hoffnungslosigkeit an ihrer Seite sind, rechnen sie den Ordensfrauen hoch an.-
Begegnungen der Hoffnung
Schwester Medhin mit der jungen Frau Meheret.
Auch die Schwestern, die die Grausamkeiten des Krieges längst selbst noch nicht verarbeiten konnten, lassen die Begegnungen nach vorne blicken: Wie für ihre Mitschwester Lettegabriel die geflüchtete Birhan ein Lichtblick bedeutet, so ist dies für Schwester Medhin die 26-jährige Meheret. Die junge Frau umarmt die Ordensfrau mit strahlendem Gesicht und hakt sich bei ihr unter.
Später, als Schwester Medhin von dem Schicksal der jungen Frau erzählt, ringt sie um Fassung: Meheret wurde zusammen mit zwei Arbeitskolleginnen von Soldaten brutal misshandelt. Die Kolleginnen überlebten das Martyrium nicht. Meheret kam mit schwersten Verletzungen und Verstümmelungen mit dem Leben davon. Als sie ins Hawelti-Camp gebracht wurde, konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen, hatte wegen der traumatischen Erlebnisse die Sprache verloren. Nur langsam stabilisierte sich Meherets Zustand. Das Laufen hat sie neu gelernt, das Sprechen fällt ihr bis heute schwer. Dass die junge Frau sie gerade mit einem Lachen begrüßt hat, freut Schwester Medhin besonders. „Es geht in kleinen Schritten voran. Ganz verarbeiten werden wir alle das wohl nie können.“