Spuren des Überfalls: Gewehrkugeln schlugen in der Tür ein.ER LAG AM BODEN, und wollte etwas sagen. „Ich lebe. Ich lebe noch!“ Aber es ging nicht. Seine Stimme versagte. So erinnert sich Christian Carlassare an die Nacht im April 2021, als er blutüberströmt wieder zu sich kam. Er lag vor der Tür zu seinem Zimmer. „Sie haben geschossen, ich habe von innen die Tür zugehalten,“ sagt er. Doch die Angreifer waren stärker. Die Tür ging auf, sie richteten ihre Gewehre auf seine Beine und schossen erneut. „Dann bekam ich Schläge mit dem Gewehrkolben.“ Er wurde bewusstlos. Als er wieder aufwachte, lag er am Boden.
Er sah, wie andere ihn fanden und wieder gingen. Ein Priester brachte Öl für die Sterbesakramente. Sie dachten, er sei schon tot. Doch er war am Leben.
Es war eine Nachricht, die in katholischen Kreisen um die Welt ging – Christian Carlassare, gerade erst 44, war kurz zuvor von Papst Franziskus zum neuen Bischof von Rumbek im Südsudan ernannt worden. Da geschah der Anschlag. Schnell kam heraus, wer dahinter steckt e. Zwei bezahlte Angreifer, und über ihre Kontakte im Telefon ließ sich nachweisen, von wem sie beauftragt waren. Von John Mathiang, einem katholischen Priester, ausgerechnet. So hat es ein Gericht festgestellt: Er habe den neuen Bischof einschüchtern wollen. Vermutlich aus Wut, weil er selbst nicht auf den Bischofsstuhl befördert worden war. Obwohl er doch fast 10 Jahre lang das Bistum verwaltet hatte, nachdem der Italiener Cesare Mazzolari, ein Held der Unab hängigkeitsbewegung im Südsudan, 2011 plötzlich verstorben war.
Zeichen für Frieden und Verständigung
Das Opfer: Christian Carlassare, ebenfalls aus Italien und schon seit 2005 als Comboni-Missionar im Südsudan tätig. Er überlebte. Der Täter: John Mathiang, ein einheimischer Priester aus dem Volk der Dinka. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Christian Carlassare hat das Bischofsamt dann mit einjähriger Verspätung angetreten. Es nicht zu tun, kam für ihn nicht in Frage. Es sei ein Zeichen für den Frieden und die Verständigung, sagt er. Oh ja, Frieden und Versöhnung – das ist bitter nötig im Südsudan, der seit Jahrzehnten von Krieg und Gewalt zerfetzt wird. Zunächst bis 2011 im Ringen um die Ablösung vom islamistischen Norden, danach im Streit um den Zugang zur politischen Macht und den Reichtümern, welche die Ölquellen des Landes liefern.
Am Straßenrand, außerhalb von Rumbeck: Eine Gruppe Frauen, in den Landesfarben geschminkt und gekleidet.Dass Konflikte sofort in rohe Gewalt umschlagen können, ist auch heute noch überall zu spüren. Am Straßenrand, außerhalb der Stadt Rumbek zum Beispiel. Eine Gruppe junger Frauen tanzt ausgelassen, sie sind in den Landesfarben geschminkt und gekleidet. Vielleicht wurde heute geheiratet. Ein Grund zur Freude. Mit einem Mal aber gibt es Aufruhr. Eine Frau nimmt etwas in die Hand – ist es ein Schuh? Oder ein Stein? Sie schleudert den Gegenstand mit großer Kraft durch die Luft, und trifft einen Jungen, vielleicht 13, 14 Jahre alt. Er hat sie beleidigt, wird sie später sagen. Eine unflätige Bemerkung, die sie sich nicht gefallen lassen wollte. Jetzt wird es ernst: Handgemenge, Schubsen in alle Richtungen. Es gelingt, den Jungen festzuhalten und zu beruhigen. Wenige Minuten vergehen, da fährt auch schon ein Moped daher. Zwei Männer. Zwei Gewehre. Polizei. Handschellen klicken. Der Junge wird mitgenommen. Das Motorrad fährt los, über verwinkelte Feldwege durchs dichte Gestrüpp, und schon bald ist es nicht mehr zu sehen.
Das hätte ein großes Drama werden können, sagen einige, die zurückbleiben. Ein weiterer kleiner Funke hätte genügt, und dann wäre vielleicht die eine Familie angerückt, um es der anderen heimzuzahlen. Vielleicht wäre es zu einem bewaffneten Konflikt gekommen – Gewehre liegen überall zu Hause, und jedes Opfer muss mehrfach gerächt werden, so will es die Tradition in vielen Fällen (zumindest behaupten das diejenigen, die von solchen Konflikten gut leben können).
Sicherheitslage stark verbessert
Christian Carlassare sagt stellvertretend für die Kirche in der Region, dass sie zufrieden sind mit dem aktuell regierenden Gouverneur des Bundesstaates Lakes. Er sei streng, und seine Leute würden die Gesetze strikt durchsetzen – so habe sich die Sicherheitslage stark verbessert. Man könne heute wieder in Gebiete gehen, die vor wenigen Jahren noch viel zu gefährlich waren. Dass das aber eine Kehrseite hat, ist auch klar. Ein anderer Kirchenmann geht regelmäßig zur Seelsorge in die Gefängnisse. Diese seien übervoll, sagt er, hunderte junge Menschen, die auf einen Prozess oder ein Urteil warten, oder wegen kleiner Vergehen für immer eingesperrt werden.
Zwischen Überschwemmungen und Hungersnot: Das Leben der Menschen ist hart.Von einem stabilen Rechtssystem, ja von einem Staat, der das Wohl seiner Menschen im Blick hat, ist der Südsudan weit entfernt. Es sind Hilfsorganisationen und die Kirchen, die den Menschen im Alltag Hoffnung geben. Und die Menschen selbst, die ihr Leben in die eigenen
Hände nehmen.
In Ton Aduel, einem Dorf nahe Rumbek, blieb letztes Jahr die Ernte aus. Die Felder waren zerstört, zunächst von Überschwemmung, dann von Dürre. Wenn Politik und Staat versagen, tut eine erbarmungslose Natur oft das Übrige. Und dann klopft der Hunger an die Tür.
Mary Yom Apac hat es miterlebt. „Diese Zeit war schlimm,“ berichtet sie. „Es gab Hunger, und viele Krankheiten wie Malaria. Die Menschen mussten sich ihr Essen stehlen.“ Gerade noch rechtzeitig kam die Hilfe von der Kirche – in Form von Lebensmittelrationen, um die schlimmste Not im Dorf abzuwenden. „Jetzt geht es uns besser,“ sagt Mary Apac. „Wir haben wieder Kraft.“ Sie ist Witwe und ist deshalb selbst zur Geschäftsfrau geworden. Ein Feld mit Gemüse bringt ihr ein wenig ein, und außerdem besitzt sie ein Motorrad, das sie als Taxi vermietet. „Wenn man hart genug arbeitet, dann geht es“, sagt Mary Apac. Und wenn man etwas Hilfe von außen hat.
Neue Gefahr für Christian Carlassare?
Im Fall von Christian Carlassare gab es mehrere Wendungen. Denn inzwischen ist der verurteilte Täter wieder frei. Überraschend erhielt er einen Freispruch – so ganz genau sei seine Schuld dann doch nicht erwiesen, urteilte das Gericht. Obwohl in Rumbek und Umgebung jeder ahnt, dass das nicht stimmt. Er sei bereit sich zu versöhnen und dem Bischof zu dienen, erklärte John Mathiang, als er aus dem Gefängnis kam. Der Vatikan blieb hart, hielt seine Suspendierung aufrecht.
Bon iface Izenge betreut eine Pfarrei auf dem Land.Doch die Familie ist offenbar einflussreich – sonst wäre er nicht so schnell freigekommen. Bedeutet das eine neue Gefahr für Christian Carlassare? Er sei nicht bereit, bis zum Äußersten zu gehen und sein Leben aufs Spiel zu setzen, heißt es aus seinem Umfeld. Und so ist er im Juli 2024 zum Bischof der neu errichteten Diözese Bentiu bestimmt worden. Er wird Rumbek noch eine Weile betreuen, bis ein Nachfolger gefunden ist. Dann wird seine Mission woanders weitergehen. Christian Carlassare zitiert ein Sprichwort: Es gebe Orte, an denen man zwei Mal weint: Ein Mal, wenn man kommt, und ein Mal, wenn man geht. Rumbek könnte so ein Ort sein, sagt er.
Der Priester Boniface Muema Izenge kommt aus Kenia. Seit rund zehn Jahren arbeitet er im Südsudan. Er betreut die Menschen in Ton Aduel, wo auch die Witwe Mary Apac lebt. Als er abends zurück nach Hause fährt, sitzt er am Steuer seines Geländewagens, der ihn über die holprigen Pisten bringt. Plötzlich zeigt er mit dem Arm in Richtung Straßenrand. „Dort vorne war es,“ sagt Boniface Izenge. „Dort haben sie gewartet. Und dann haben sie auf mich geschossen.“ Ein Überfall, die Wegelagerer wollten Geld. Die Kugeln drangen in die Karosserie ein, Boniface Izenge blieb unverletzt. Gut, dass diese Zeiten jetzt vorbei sind, sagt er. Heute kann er diese Strecke ohne größere Sorgen fahren. Morgen auch?