MITTE VIERZIG wird sie wohl sein. Eine selbstbewusste Frau im eleganten Hosenanzug. Ihr Lachen ist herzlich. Aber jetzt sucht sie nach Worten, als wären ihr alle verloren gegangen. Vielleicht holen die Worte ja den Horror wieder hervor, den sie irgendwo tief vergraben hat?
Die Erinnerung an den Tag, als man ihr sagte, sie würde jetzt vom Mädchen zur Frau. Als man ihr ein Fest versprach. Als ihr eine alte Frau mit Rasierklingen Grauenhaftes antat. Sie überstand das Grauen, so wie ihre Freundinnen. Das sei normal, sagten die Älteren. Stolz solle sie sein, dass sie so stark und tapfer sei.
Freiwillige im Kampf gegen Genitalverstümmelung
Es dauerte Jahre, bis ihr klar wurde, dass die Frauen ihrer Volksgruppe sehr wohl stark und tapfer sind. Aber dass das überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was ihr und ihren Altersgenossinnen widerfahren ist. Darum ist sie heute hier, im Zentrum der Loreto-Schwestern, eine Stunde entfernt von Nairobi. Als Freiwillige, die die jungen Mädchen begleitet, Aufklärungskurse anbietet. Hier findet sie Worte. Doch den Fachbegriff „weibliche Genitalverstümmelung“, den die Weltgesundheitsorganisation für das benutzt, wogegen sie hier kämpfen, spricht sie nicht aus. Zu endgültig klingt er, zu traurig, zu sehr nach der erlebten Hilflosigkeit. Zu sehr, als hätten alle sie betrogen: die Eltern, die Schwestern, die Älteren, die ganze Gemeinschaft.
Ein Viertel der Frauen stirbt nach Infibulation
In 30 Ländern passiert es nach wie vor, Tag für Tag: Neugeborene, Mädchen und erwachsene Frauen werden einer grauenhaften Prozedur unterzogen. Gegen jegliches medizinische Wissen. Die weibliche Genitalverstümmelung (FGM für „Female Genital Mutilation“) zerstört, je nachdem, auf welche Weise sie durchgeführt wird, Klitoris und Schamlippen teilweise oder komplett.
Als schwerste Form des Eingriffs wird dabei von der Weltgesundheitsorganisation die Infibulation geführt. Dabei wird das gesamte äußere Geschlecht entfernt und die Schamlippen werden über der Scheide und dem Harnröhrenausgang zugenäht. Es verbleibt nur eine winzige Öffnung für den Austritt von Urin und Menstruationsblut. Ein Eingriff mit horrenden Folgen: Rund ein Viertel der Mädchen und Frauen versterben direkt oder an späteren Folgen.
Kampf gegen FGM als Lebensthema
Mehr als ein Vierteljahrhundert lang hat Sr. Ephigenia Gachiri in Kenia gegen diesen Irrsinn gekämpft. Die Verstümmelung der weiblichen Genitalien ist zum Lebensthema der Ordensfrau geworden. „Die schiere Zahl der betroffenen Frauen war für mich ausschlaggebend“, sagt sie. „Das, was hier passiert, lässt sich nicht ignorieren.“
Vier Bücher hat die promovierte Nonne über das Thema geschrieben. Sie hat vor den Vereinten Nationen gesprochen. Sie hat ein Netzwerk von Freiwilligen aufgebaut, die an ihrer Seite stehen.
Aufklärung in Dörfern
Vor allem aber hat sie immer wieder schier endlose Fahrten in die entlegensten Dörfer ihrer kenianischen Heimat unternommen und diejenigen Volksgruppen besucht, die am zähesten an dem Brauch festhalten, der in Wahrheit eine schwere Körperverletzung ist. Sie hat die Ältesten in den Dörfern für sich gewonnen, hat den Männern so lange erklärt, was ihren Frauen angetan wurde, bis sie versprachen, zumindest ihren Töchtern und Enkelinnen dieses Leid zu ersparen.
Sie hat Beschneiderinnen ins Gewissen geredet und ihnen andere Einkommensquellen als Alternativen zum guten Geschäft der „Beschneidung“ vorgeschlagen. Hat jungen Mädchen Mut gemacht, sich dem Gruppenzwang entgegenzustellen. Als sie verstanden hatte, dass sich der Schritt ins Erwachsenenleben, als der die Beschneidung gesehen wird, nicht einfach so streichen lässt, hat sie einen Ritus entwickelt. Einen Ritus, der die Mädchen in die Welt der Frauen einführt ohne ihren Körper zu verstümmeln.
Corona-Zeit begünstigt Verstümmelung
„Haben wir etwas erreicht?“ wiederholt Sr. Ephigenia Gachiri die ihr gestellte Frage an diesem Nachmittag im Frühjahr 2022. Sie steht vor der Eingangstür der Niederlassung der Loreto-Schwestern nahe der kenianischen Hauptstadt Nairobi. „Ja, das haben wir. Aber wenn wir aufhören, geht alles verloren.“
Die Einschränkungen der Corona-Zeit haben die Loreto-Schwestern in Kenia in ihrer Arbeit zurückgeworfen: Das Zentrum der Ordensfrauen, in dem sonst junge Mädchen in Workshops aufgeklärt werden, um sich gegen den Eingriff wappnen zu können, war pandemiebedingt verwaist. Schulen waren monatelang geschlossen. Die Mädchen wurden zurück in ihre Familien geschickt. „Wir wissen nicht, was dort passiert ist“, sagt die Ordensfrau. „Das war die gefährlichste Situation für die Mädchen. Zu etlichen haben wir keinen Kontakt mehr.“ Was den Mädchen passiert, ist international geächtet und auch nach kenianischem Recht eine Straftat, die eine Gefängnisstrafe und Bußgeld nach sich zieht.
Beschneidung offiziell verboten
Mittlerweile steht auch die Beschneidung erwachsener Frauen in dem ostafrikanischen Land unter Strafe. Gerade diese sei ein Phänomen jüngerer Zeit, betont die Ordensfrau. Während unter den Mädchen über die Jahre ein Bewusstsein dafür entstanden sei, sich dem Eingriff widersetzen zu dürfen, schlage der Gruppendruck in einem späteren Lebensabschnitt nochmals zurück.
„Wenn Ehemänner sozial oder wirtschaftlich aufsteigen, macht die Gesellschaft Druck, dass die Ehefrau beschnitten sein muss. Wir sehen Fälle, in denen sich erwachsene Frauen freiwillig dem Eingriff unterziehen. Manche werden dazu gezwungen“, sagt sie.
Jedes fünfte Mädchen in Kenia betroffen
In 38 der 43 ethnischen Gruppen Kenias ist die Praktik laut der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes nach wie vor präsent. Mehr als jedes fünfte kenianische Mädchen sei nach wie vor betroffen (Jahr 2019). Die grauenhafte Tradition zieht sich dabei auch durch alle Religionszugehörigkeiten: Betroffen sind Musliminnen, Katholikinnen, Gläubige anderer christlicher Konfessionen und einheimischer Religionen.
Mittlerweile zählt FGM in Kenia auch als eine sogenannte Auslandsstraftat. Das heißt, dass die Kinder nicht mehr einfach so etwa über die Grenze nach Tansania gebracht werden können, um den Gesetzen auszuweichen.
Fortschritte im Kampf gegen FGM
Und immerhin gibt es im weltweiten Einsatz gegen FGM einen Fortschritt zu vermelden: In 26 von 30 betroffenen Ländern ist die weibliche Genitalverstümmelung in den vergangenen 30 Jahren zurückgegangen – am stärksten im vergangenen Jahrzehnt. Darauf verweist eine neue Studie der Amerikanischen Universität von Beirut. In Äthiopien etwa sank die Zahl der betroffenen Mädchen im Alter zwischen Null und vierzehn Jahren von 52 Prozent (Jahr 2000) auf 15,7 Prozent (Jahr 2007).
Zu verdanken ist die Entwicklung mehreren Faktoren: Neben jahrzehntelangem Einsatz für Bildung und Aufklärung sind dafür auch die härteren Gesetze vieler Länder ausschlaggebend. Vor allem die Strafverfolgung hat sich vielerorts verbessert: Ein wichtiger Punkt, denn ein Gesetz, das auf dem Papier steht, dessen Missachtung aber im täglichen Leben geduldet und totgeschwiegen wird, ist wenig wert.
Wo Beschneidung auf dem Vormarsch ist
Die gesundheitlichen Folgen der grausamen Tradition, die vor allem in Ländern Afrikas, Asiens und des Nahen Ostens verwurzelt ist, sind gravierend: von starken Schmerzen, Infektionen, Blutvergiftungen, Unfruchtbarkeit, Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt bis hin zum Tod. Hinzu kommt das psychische Trauma.
In einigen Ländern ist FGM sogar auf dem Vormarsch. Das von Dürre und Hungersnot geplagte Somalia ist derzeit der schlechteste Ort weltweit, um als Mädchen geboren zu werden: Dort liegt der Anteil genitalverstümmelter Frauen bei 99,2 Prozent. Und auch in Burkina Faso, Guinea-Bissau und in Mali sind derzeit wieder mehr Mädchen betroffen als vor einigen Jahren.
Situation in Deutschland
Und: Rund 75.000 betroffene Frauen leben in Deutschland. 20.000 Mädchen, die hier aufwachsen, gelten als bedroht. Nicht immer erkennen hiesige Frauenärztinnen aber sofort, was ihren Patientinnen widerfahren ist, die aus Ländern stammen, in denen FGM praktiziert wird. „Im Medizinstudium haben wir darüber nichts gelernt“, sagt Dr. Stefanie Ennemoser. Die Münchner Gynäkologin hat sich deshalb zu FGM fortgebildet.
„Ich wollte mehr darüber verstehen“, sagt sie. Denn in die Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Ludwig-Maximilians-Universität, an der sie nach abgeschlossenem Studium als Gynäkologin begann, kam mindestens einmal pro Woche eine solche Patientin.
Sensibler Umgang wichtig
Ennemoser ist auch tiefenpsychologische Psychotherapeutin. „Als Ärztin braucht man das Bewusstsein, dass den Frauen auf der einen Seite von ihren Liebsten Gewalt angetan wurde. Das bedeutet einen Verlust von Urvertrauen. Auf der anderen Seite gehört das Erlebte zu ihrem Selbstverständnis. Sie denken sich, es gehört einfach dazu“, sagt sie. Wichtig sei ein sensibler Umgang. Man müsse etwa nicht beim ersten Termin eine Untersuchung durchführen. Oft sei es besser, erst einmal ins Gespräch zu kommen.
Viele ihrer Patientinnen in der Uniklinik stammten aus Somalia. Dort ist die Infibulation, das Zunähen nach der Beschneidung, üblich. Ein Ehepaar, dessen Kind sie entbunden hatte, hatte darum gebeten, dass sie dies doch nach der Geburt vornehmen solle. Geduldig erklärte die Gynäkologin, dass das nicht nur medizinisch unvertretbar, sondern auch strafbar sei. „Sie wussten es schlicht nicht. Sie waren aber einverstanden“, erinnert sich die Ärztin.