Wo ist unser Junge? Verzweifelt suchten Mutter und Vater nach ihrem Sohn.NUR DER SCHULRANZEN war noch da. Ansonsten: Nichts. Keine Spur. "Haben Sie Martin gesehen?" Der Junge war nicht nach Hause gekommen. Deshalb ging seine Mutter in die Schule und fragte dort nach ihm. "Wir wissen auch nicht wo er ist", sagte man ihr. "Bestimmt ist er mit ein paar Freunden zum Spielen gegangen." Doch das stimmte nicht. Martin war weg. Verschwunden. Esther Wanjira und ihr Mann Patrick Mirii ringen noch immer mit der Erinnerung an das, was ihnen und ihrem Sohn Martin zugestoßen ist. Sie haben heute Besuch von Cynthia Kitusa. Sie ist Psychologin und arbeitet für die Organisation HAART. Deren Mission ist der Kampf gegen Menschenhandel. Cynthia Kitusa betreut die Familie – denn inzwischen ist klar: Ihr Sohn Martin ist in die Hände von Menschenhändlern geraten. Entführt am helllichten Tag. Drei Jahre lang gab es kein Lebenszeichen von ihm.
Die kenianische Millionenstadt Nairobi ist ein Drehkreuz für den Menschenhandel in Ostafrika geworden. Er findet meist im Verborgenen statt. Die Organisation HAART versucht, Opfer aufzuspüren und ihnen zu helfen. Dabei nutzen sie möglichst viele Kanäle. Programmleiterin Winnie Mutevu berichtet: "Letztes Jahr haben wir zusammen mit der Polizei bei Facebook eine Notrufnummer veröffentlicht. Darin haben wir geschrieben, dass wir in praktisch jedem Land der Welt versuchen, Menschen Hilfe anzubieten. Allein auf diesen Facebook-Eintrag sind mehr als 4000 Hilferufe bei uns eingegangen. Das alleine zeigt schon, dass das Problem viel größer ist, als viele denken.“
Hoffnung auf ein besseres Leben
Faith Murunga war in Saudi-Arabien und wurde misshandeltEin solcher Hilferuf kam auch von Faith Murunga. Wie viele andere Landsleute ist sie auf ein Jobangebot einer Vermittlungsagentur eingegangen. Diese versprechen Arbeitsplätze, gutes Geld und sie kümmern sich um alle Formalitäten. Nach Angaben der Regierung in Nairobi arbeiten zum Beispiel in Saudi-Arabien schon rund 97 000 Männer und Frauen aus Kenia. Eine Haushaltshilfe könne dort etwa 23 000 Shilling im Monat verdienen. Umgerechnet 180 Euro, die in der Heimat einen Schulbesuch, eine Berufsausbildung oder ganz einfach ein gutes Leben ermöglichen können. Wenn alles gut geht.
Bei Faith Murunga entwickelte sich der Aufenthalt schnell zu einem Albtraum. "Als ich ankam, haben sie mir den Pass abgenommen." So konnte sie sich nicht mehr frei bewegen, war quasi illegal im Land. Schlimmer noch: Die Arbeit im Haus einer reichen arabischen Familie war hart, sie wurde schlecht behandelt. "Wenn ich einen Fehler machte oder die Sprache nicht verstand, dann schlugen sie mich." Sie zeigt eine vernarbte Wunde an ihrem Arm. Der Hausherr habe sie mit kochendem Wasser übergossen. Dann habe er sie mit vorgehaltener Waffe gezwungen, eine falsche Aussage zu unterschreiben – im Krankenhaus und bei der Polizei gab sie zu Protokoll, dass sie sich die Verletzung versehentlich selbst zugefügt hätte.
Auf ihrem Facebook-Profil (statt "Faith" benutzt sie dort den Namen "Fauzia") veröffentlichte sie Bilder von ihren Verletzungen, bat um Hilfe – und sie bekam Antwort, es gelang mit Hilfe der kenianischen Botschaft ihre Ausreise zu organisieren. Jetzt wird es darum gehen, zu Hause ein neues Leben anzufangen. Bei HAART können Überlebende zum Beispiel lernen, wie sich ein Handwerksbetrieb oder ein Marktstand aufmachen lässt. Faith Murunga denkt an eine Imbissbude am Straßeneck, das könne ihr vielleicht helfen, sagt sie optimistisch. Sie wurde schon im Fernsehen und im Radio interviewt, und hat auch dort von ihren Erlebnissen in der Fremde erzählt – denn sie möchte, dass andere davon wissen, welche Risiken sie eingehen, wenn sie sich auf allzu dubiose Versprechungen verlassen.
Kriminellen Menschenhandel eindämmen
Bildung und Aufklärung, dazu Qualitätsstandards für Arbeitsvermittler und außerdem sichere und legale Wege für Menschen, die in anderen Ländern Arbeit suchen – das wäre der beste Weg, um kriminellen Menschenhandel einzudämmen. Davon sind sie bei HAART überzeugt. Programme mit Titeln wie "Better Migration" werden derzeit auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zwischen der kenianischen Regierung und der Bundesrepublik Deutschland aufgelegt. Winnie Mutevu sagt: "Ich denke, Deutschland hätte noch viel mehr Möglichkeiten, um international auf seine Partnerländer einzuwirken und gegen Menschenhandel vorzugehen."
Erfolge auf lokaler Ebene sind gut – aber gegen ein weltweites Phänomen wollen sie auch globale Antworten finden. Auf der arabischen Halbinsel ist HAART mit anderen NGOs vernetzt, in Kenia arbeiten sie eng mit den Polizeibehörden zusammen. Rettungsaktionen in Fabriken, Bordellen oder Nachtclubs sind Sache der Polizei – die befreiten Frauen kommen aber danach häufig im Schutzzentrum von HAART unter. Das Zentrum befindet sich an einem geheimen Ort. Menschenhandel ist ein Verbrechen, aber auch ein großes Geschäft. Wer dagegen kämpft, legt sich mit mächtigen Gegnern an. "Wir müssen vorsichtig sein“, sagt Winnie Mutevu.
Martin ist wieder zurück bei seinen Eltern.Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem Patrick Mirii dachte: "Ich gebe auf!" Sein Sohn würde nie mehr zurückkommen. "Ich wollte die Sache hinter mir lassen und nach vorne schauen“, sagt er. Seine Frau sah das anders: "Ich wusste, dass er noch am Leben ist." Sie wollte nicht aufgeben. Immer wieder ging sie durch die Stadt, sprach Lastwagenfahrer an, zeigte Bilder ihres Sohnes. Irgendwer musste ihn doch gesehen haben! Fast zerbrach ihre Ehe daran. "Es war schwer für uns", sagen beide und schweigen dann. Wie kam es, dass Martin eines Tages wieder zu ihnen zurückfand?
"Sie haben ihm sogar einen neuen Namen gegeben"
Langsam ist es der Familie gelungen, die Geschehnisse von damals einigermaßen zu rekonstruieren. Nach der Schule war Martin wohl tatsächlich mit ein paar Freunden durch die Straßen gestreift. Auf der Müllkippe von Dandora, wo sich der Abfall der Millionenstadt stapelt, wo Frauen und Kinder in den Müllhaufen nach Verwertbarem suchen und mafia-artige Gruppen das Geschäft kontrollieren – dort wusste er plötzlich nicht mehr den Weg zurück. Er hatte sich verlaufen, fragte einen Lastwagen-Fahrer. Der versprach, ihn mitzunehmen. Doch in Wirklichkeit war er ein Krimineller. Er nutzte die Gelegenheit und verfrachtete wohl den Jungen hinüber ins Nachbarland Tansania. Dort verkaufte er ihn.
"Ja, das gehört zu den typischen Fällen von Menschenhandel", sagt Winnie Mutevu. Manche Clans der Massai würden sich kenianische Kinder kaufen und diese zu Hirten abrichten. Martin erinnert sich, dass er im Stall am Boden zwischen den Ziegen und Kühen schlafen musste. Sie hätten kaum Wasser zu trinken bekommen und nur wenig zu essen, vielleicht eine Mahlzeit am Tag. "Sie haben ihm sogar einen neuen Namen gegeben", berichten seine Eltern. Er hieß nicht mehr Martin, sondern Emmanuel. Trotzdem gelang es ihnen nicht, die Erinnerung an die Heimat und an die Eltern in ihm auszulöschen. Er wollte nach Hause. Eines Tages schaffte er die Flucht. Wie genau, das ist noch nicht ganz geklärt. "Er konnte heimlich in einen Bus steigen, ohne dass er gesehen wurde", berichtet die Mutter. Und mit dem Bus kam Martin schließlich zurück nach Nairobi. Zufällig erkannte ihn jemand, über weitere Umwege schließlich kam es zum Wiedersehen.
Kriminelle Netzwerke decken sich gegenseitig
Doch zwischen die Freude mischte sich die Sorge. Sie sahen ihrem Sohn ja an, dass es ihm schlecht ging. Mit Cynthia Kitusa steht ihnen eine Begleiterin zur Seite. Langsam bauten sie gegenseitig Vertrauen auf, vielleicht lässt sich das Trauma verarbeiten. Das alleine genügt aber nicht. Denn das kenianische Gesetz stellt Menschenhandel unter Strafe, und dementsprechend erstatteten sie Anzeige. Oft ist es schwer, den Menschenhändlern auf die Spur zu kommen. Manchmal handelt es sich um kriminelle Netzwerke, die sich gegenseitig decken. Oft sind es aber auch Einzelpersonen, die aus Geldgier oder auch aus eigener Not heraus in den Handel einsteigen. Was Martins Fall besonders macht: Es ist gelungen, den Namen des Entführers ausfindig zu machen. Und so liegt der Fall nun beim Gericht. Die Justiz in Nairobi arbeitet langsam, ein Urteil gibt es noch nicht.
Martins Vater sagt: "Wir wünschen uns Gerechtigkeit. Und eine Entschädigung." Er habe mit seiner Arbeit als Zimmerer immer wieder aussetzen müssen, das hat ih n viel Geld ge kostet. Außerdem wird Martin noch viel Betreuung brauchen. Wird er je ein selbstständiges Leben führen können ? Cynthia Kitusa betont: Er habe viel Talent bewiesen – eine solch abenteuerliche Flucht aus den Fängen der Menschenhändler, und dann wieder zurück nach Hause, das muss man erst einmal schaffen! Als Martin diese Worte hört, lächelt er verhalten.
Einen Kurzfilm über das Engagement von Winnie Mutevu und die Organisation HAART gibt es im Youtube-Kanal von missio München>>
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