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28. Juni 2019
Reportage:   Antje Pöhner   Fotos: Friedrich Stark
Reportage aus Tansania

Wir gehören dazu!

Menschen mit Behinderung ein würdevolles und gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen, das hat sich das Projekt Simama im Hochland von Tansania zum Ziel gesetzt. Dort wird Hunderten Kindern und ihren Familien geholfen, die Hürden des Alltags zu meistern. Das Projekt ist Inspiration für die interaktive Ausstellung „missio for life“: Hier tauchen Schüler ein in das Leben des tansanischen Jungen Geoffrey, der nach einem Motorrad-Unfall gelähmt bleibt…
28. Juni 2019
Text: Antje Pöhner   Fotos: Friedrich Stark

Wie es genau passiert ist, daran kann er sich kaum noch erinnern. Joseph Marsanja weiß nur noch, dass er mit dem Motorrad auf der staubigen Straße unterwegs war, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Auto vor ihm auftauchte. Er versuchte noch auszuweichen – dann wurde ihm schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kommt, kann er sein linkes Bein nicht mehr bewegen. Auch zwei Operationen im staatlichen Krankenhaus bringen den mehrfach gebrochenen Oberschenkel nicht wieder in Ordnung – ohne Hilfe kann er kaum selbst laufen. „Mit dieser Behinderung zu leben, ist hart für mich“, sagt JosephMarsanja niedergeschlagen. „Richtig arbeiten kann ich nicht mehr und staatliche Hilfe gibt es nicht.“

mm 4 2019 tansania simama 9Joseph Marsanja wurde bei einem Motorradunfall schwer verletzt.Unfälle wie der von Joseph Marsanja sind in Tansania keine Seltenheit. Das Motorrad ist beliebtes Fortbewegungsmittel in dem ostafrikanischen Land, weil viele Sand- und Schotterpisten in den Dörfern für Autos kaum passierbar sind. Auf den unbefestigten Straßen kommt es täglich zu Unfällen.Wie es Joseph im echten Leben ergangen ist, so ergeht es dem tansanischen Jugendlichen Geoffrey in der interaktiven missio-Ausstellung „missio for life“. Seit Juni 2019 gibt es das neue Virtual-Reality (VR)-Modul, das Leben mit Behinderung in den Blick nimmt. Schüler ab der 8. Jahrgangsstufe können nicht nur wie bisher auf Tablets das Leben von Jugendlichen in Indien und auf den Philippinen begleiten, sondern auch mit VR-Brillen in die Welt Geoffreys im ostafrikanischen Tansania eintauchen. Wie ist es, mit einer Behinderung in einem Land  zurechtzukommen, in dem der Alltag, vor allemfür die ärmere Bevölkerung auch ohne Beeinträchtigung schon schwer zu meistern ist?

Von der Fiktion in die Wirklichkeit

In Geoffreys Welt ist es ein Pfarrer, der ihn auf seinem Weg unterstützt. Furaha Ntsamayame heißt er, von allen nur „Father Furaha“ genannt.Und hier knüpft die  virtuelle Welt wieder an die Wirklichkeit an:  Father Furaha gibt es auch im echten Leben. Er und das von ihm geleitete Rehabilitationsprojekt Simama der Diözese Mbeya im südlichen Hochland Tansanias sind Inspiration für das neue Virtual-Reality-Modul von „missio for life“. Simama bedeutet auf Swaheli „Steh auf!“ – und genau das ist das Ziel: Kindern mit Behinderung und ihren Eltern zu helfen, gegen alle Widrigkeiten aufzustehen.

mm 4 2019 tansania simama 16Wenn es seine Zeit erlaubt, schaut Father Furaha auch bei den Kindern zuhause vorbei: hier bei dem achtjährigen Anderson und seiner Mutter Anita.Im Jahr 2013 hat der Pfarrer das Projekt ins Leben gerufen. „Die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ist mir eine Herzensangelegenheit. Wir wollen erreichen, dass die Kinder und ihre Familien nicht mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch individuelle Talente und Fähigkeiten hat.“ Father Furaha sitzt am Steuer seines in die Jahre gekommenen Geländewagens, während er begeistert von seiner Arbeit erzählt. Fast täglich ist er unterwegs zu einer der Außenstellen des Projektes. Simama besteht aus vier kleinen Rehabilitationszentren. Außerdem arbeiten Father Furaha und seine Kollegen eng mit einem örtlichen Krankenhaus, dem Ausbildungszentrum Iyunga für Jugendliche mit Behinderung und sechs Grundschulen mit Inklusionsklassen zusammen. Alle Einrichtungen sind auf das weitläufige  Stadtgebiet der knapp 400 000-Einwohner-Stadt Mbeya verteilt.

In den vier Reha-Zentren werden Kindermit geistigen wie körperlichen Behinderungen von Physiotherapeuten behandelt. Sozialarbeiter und eine Psychologin unterstützen die Familien, die oft nur schwer mit der Behinderung ihrer Kinder zurechtkommen. „Bei uns in Tansania herrscht noch immer die Meinung, Behinderte hätten keinen  Anspruch darauf, am Leben teilzunehmen“, berichtet Father Furaha. „Sie glauben, Menschen mit Behinderung seien hoffnungslose Fälle, in sie zu investieren wäre sinnlos. Eltern bekommen nicht selten zu hören, ihr Kind sei ‚eine Strafe Gottes‘. Die Leute glauben oft auch daran, dass bei Behinderungen Hexerei im Spiel ist. Die betroffenen Familien werden gemieden, um den Fluch fernzuhalten.Das ist nur schwer aus den Köpfen der Menschen herauszubekommen“, erzählt der 39-Jährige und fügt nachdenklich hinzu: „Wenn Väter und Mütter von behinderten Kindern mit ihremSchicksal hadern und sich schwertun, ihre Kinder so zu akzeptieren wie sie sind, ist das durchaus nachvollziehbar.Aber wir wollen das mit Simama ändern.“

Die Kinder annehmen, so wie sie sind

mm 4 2019 tansania simama 19Uruma Fronto kommt mit ihrem Sohn Esrom drei Mal die Woche in eines der Simama-Reha-Zentren.Father Furaha ist inzwischen in einem der Simama-Reha-Zentren angekommen. Die Gemeinde hat ihm für sein Projekt in einem Schulgebäude hinter der Kirche einen Raum zur Verfügung gestellt. Heute sind etwa zwei Dutzend Mütter und einige Väter mit ihren Kindern gekommen. Mit dabei viele Geschwisterkinder, die auf dem kleinen Platz vor dem Schulgebäude herumtoben oder den Physiotherapeuten und Sozialarbeitern bei den Übungen neugierig über die Schultern schauen. 

Father Furaha wird von Eltern und Kindern freudestrahlend begrüßt. Ein Kind drückt ihm schüchtern die Hand, andere umarmen ihn stürmisch. In jeder der vier Einrichtungen werden über die Woche verteilt etwa 100 Kinder behandelt. Nicht wenige Familien kommen aus den ländlichen Außenbezirken der Stadt und haben einen beschwerlichen Fußmarsch hinter sich. Die Eltern tragen auch noch die größeren Kinder, die wegen ihrer Behinderung nicht laufen können, in bunten Tüchern auf den Rücken gebunden. Rollstühle sind für die meisten unerschwinglich – und würden auf den holprigen Straßen meist wenig nützen.

„Wir fühlen uns hier angenommen, so wie wir sind“, sagt Uruma Fronto, die mit ihrem elfjährigen Sohn Esrom drei Mal die Woche zum Reha-Zentrum kommt. Er ist seit seiner Geburt geistig behindert. Die 37-Jährige hat den Jungen gerade nach draußen getragen und sitzt jetzt neben ihm auf einer kleinen Wiese. „Seitdem wir mit Esrom bei der Reha sind, kann er seine Arme und Beine viel besser bewegen. Das ist  großartig“, sagt Uruma Fronto. Erst hier habe sie gelernt, ihr Kind so anzunehmen, wie es ist. „Ich treffe hier Mütter, die mit den gleichen Herausforderungen kämpfen wie ich, und auch andere Kinder, die genauso sind wie Esrom. Hier erfahren wir, dass wir nicht alleine sind, dass wir dazugehören.“ 

 Das Gesundheitssystem ist marode

Dass es sich bei Esrom und den anderen Simama-Kindern nicht um Einzelfälle handelt, bestätigt der Chef der Physiotherapie-Abteilung des Krankenhauses, Serafin Mushi. Seinen Angaben zufolge leben von den rund 57 Millionen Einwohnern Tansanias etwa zehn Prozent mit einer schweren Behinderung. Neben Unfällen – wie der von Motorradfahrer Joseph Marsanja – sind oft Probleme während der Schwangerschaft oder Unterversorgung bei der Geburt die Ursachen. „Unser Gesundheitssystem hat große Mängel. Viele Kinder in Tansania kommen wegen Sauerstoffmangels mit geistigen und auch körperlichen Beeinträchtigungen zur Welt. Zudem wissen viele Schwangere einfach nicht, dass Alkohol- oder Tablettenkonsum ihrem ungeborenen Kind schadet. Armutsbedingte schlechte Ernährung und fehlende Hygiene tun ihr übriges“, sagt der Arzt. Die Regierung unter John Magufuli, der im Jahr 2015 zum Präsidenten Tansanias gewählt wurde (und das Amt bis zu seinem Tod im März 2021 innehatte; Anm. d. Redaktion), habe sich zwar – gerade was die Gesundheitsversorgung und auch die Integration von behinderten Menschen imLand angehe – viel vorgenommen und viele Versprechungen gemacht. Aber die Staatskassen seien wohl leer und auch das neue Krankenversicherungssystem vollkommen unterfinanziert. 

mm 4 2019 tansania simama 24Neue Beine für Jacklin: Die 19-Jährige verlor als Kind durch eine Infektionskrankheit beide Unterschenkel. Mit ihren Prothesen hat sie wieder laufen gelernt.

Auch Jacklin Makongulo ist ein Opfer des maroden Gesundheitssystems in Tansania. Weil in ihrer Kindheit eine Infektionskrankheit viel zu spät erkannt wurde, wurden der heute 19-Jährigen als Kind beide Unterschenkel amputiert. Heute macht sie imAusbildungszentrum Iyunga eine Lehre zur Schneiderin. Als sie hierherkam, konnte sie nur mit Hilfe ihrer Arme über den Boden robben. „Seit zwei Jahren habe ich jetzt neue Beine“, sagt sie lächelnd. Zwei Unterschenkel-Prothesen aus der orthopädischen  Werkstatt des Krankenhauses von Serafin Mushi machen es ihr möglich, fast wieder normal laufenzu können. Father Furaha lächelt: „Wir nehmen unsere Botschaft ernst: Simama heißt ‚Steh auf‘ – und Jacklin zeigt uns, dass das auch wirklich geschehen kann.“  

missio for life

mm 4 2019 tansania simama 32Das mobile interaktive Lernerlebnis „missio for life“ für Schüler ab der 8. Jahrgangsstufe thematisiert mit modernen Medien  spielerisch Problemfelder in aller Welt – etwa arrangierte Ehen in Indien oder die Auswirkungen der Armut auf den Philippinen. Die Jugendlichen schlüpfen in der Ausstellung in die Rollen der Protagonisten Paulo und Mercedes von den Philippinen und Renu aus Indien. Seit Juni 2019 ist die Ausstellung um ein neues Virtual-Reality (VR)-Element und damit auch um das neue Themenfeld „Leben mit einer körperlichen Behinderung“ erweitert. Der Protagonist des neuen Moduls ist Geoffrey aus Tansania.

Mit Hilfe von VR-Brillen tauchen die Schüler ein in die Welt des Jugendlichen, der nach einem Motorradunfall gelähmt bleibt. Das neue Element soll vermitteln, welche Herausforderungen es bedeutet, mit einer Behinderung in einem afrikanischen Land zu leben. Die Schüler werden motiviert, Parallelen zu ziehen zu ihrer eigenen Lebenswelt: Wie geht es Jugendlichen mit Behinderung eigentlich bei uns in Deutschland? Gibt es Ausgrenzung und Diskriminierung nicht auch hier?! Verständnis füreinander schaffen und Vorurteile abbauen, das ist unser Ziel bei missio for life.

Die mobile Ausstellung ist jährlich an rund 40 Schulen in Bayern unterwegs. Die Module werden vor Ort an gewünschter Stelle, wie Aula oder Mensa, aufgebaut. missio-for-life- Referentin Annette van de Wetering begleitet die Schüler mit einer pädagogischen Vor- und Nachbereitung. 

Alle Informationen zu Ausstellung und Buchung bei missio-for-life-Koordinatorin Marion Roppelt (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) oder unter www.missioforlife.de

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