Die Erinnerung an den Tag, als Juan erschossen wurde, ist für Remy kaum zu ertragen. Eineinhalb Jahre ist es her, dass Polizisten in die Hütte der 86-Jährigen kamen und ihren Sohn kaltblütig hinrichteten. Er stand auf der berüchtigten Drogenliste der philippinischen Regierung, geführt als "Pusher", als Drogendealer. Monate zuvor war er deshalb schon von zuhause weggegangen, hatte seine Mutter Remy und seine schwangere Frau Lourdes mit den sechs Kindern in Payatas, einem Armenviertel im Großraum Manila, zurückgelassen, um im Stadtzentrum unterzutauchen. Lourdes wurde wenig später festgenommen, weil sie das Versteck des Ehemanns nicht verraten wollte. Bis heute sitzt sie im Gefängnis. Remy kümmert sich seither alleine um die Kinder. Anfangs hoffte sie, dass sich alles als Missverständnis herausstellen würde. Doch Remy hoffte vergebens.
Ohne Beweise hingerichtet
"Es war die Sehnsucht nach den Kindern, die ihm das Leben kostete", sagt die alte Frau mit bebender Stimme in die Runde. Gemeinsam mit 14 weiteren Frauen sitzt sie im Gemeindehaus der kleinen Pfarrei Inang Lupang Pangako in Payatas. Jeden zweiten Samstag versammeln sie sich hier, Ehefrauen und Mütter gemeinsam mit ihren Kindern und Enkeln. Die Opfer sind ihre Ehemänner, Söhne und Väter – alle erschossen von Präsident Rodrigo Dutertes Killerkommandos. Hingerichtet wegen vermeintlicher Drogendelikte, ohne Vorwarnung, ohne Beweise. EJK ist die Abkürzung für das Morden auf den Philippinen: Extrajudicial Killings – Außergerichtliche Tötungen. Remys Blick geht ins Leere, ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Remys Sohn Juan wurde von Polizisten kaltblütig hingerichtet. Foto: Friedrich Stark
Grausame Säuberungsaktionen
Die 86-Jährige ist am Ende ihrer Kräfte, zerbrochen an jenem Tag im Dezember 2016: Juan war trotz der drohenden Gefahr zurück nach Hause gekommen, zum neunten Geburtstag der drittältesten Tochter Joana. Eine Packung Spaghetti hatte er aus der Stadt mitgebracht, das Lieblingsessen der Kinder. Remy war in einen nahen Laden geeilt, um Zutaten zu besorgen. Als sie heimkehrte, waren die Polizisten schon da. Joana und vier der Geschwister kauerten verängstigt vor der Hütte. Christine, die zweitälteste, klammerte sich drinnen verzweifelt an den Vater. Einer der Polizisten hielt Juan eine Pistole an die Schläfe. "Juan hat um Gnade gefleht. Immer und immer wieder. Immer und immer und immer wieder", flüstert Remy. Der Polizist drückte ab.
Juan ist einer von Tausenden, die dem Anti-Drogen-Krieg von Präsident Duterte zum Opfer fielen. Menschenrechtsorganisationen sprechen von inzwischen etwa 27.000 Toten, inklusive Frauen und Kindern, die bei den Säuberungsaktionen von Querschlägern getroffen wurden. Die Regierung räumt offiziell nur knapp 6.000 Opfer ein: Drogenkriminelle, die bei der Festnahme angeblich Widerstand leisteten. Der Präsident hatte sein Amt mit dem Vorsatz angetreten, Drogenkriminelle und -süchtige auszumerzen: "Ich wäre glücklich, sie alle abschlachten zu können", sagt er vor laufenden Kameras – mit einem provozierenden Lächeln.
Die, die dem Tod entkommen sind und bei ihrer Festnahme nicht niedergeschossen wurden, fristen ihr Dasein in einem der überfüllten Gefängnisse des Landes. Waren es zu Dutertes Amtsantritt im Juli 2016 noch rund 70 000 Menschen hinter Gittern, ist die Zahl der Insassen in den landesweiten Haftanstalten auf rund 200.000 angestiegen. Die meisten von ihnen sind mutmaßliche Drogenkriminelle. "Nur rund 50 000 der inhaftierten Männer und Frauen sind nach dem Gesetz verurteilt. Die restlichen warten auf ihren Prozess. Und das kann hier schon gerne zehn Jahre dauern", berichtet der Generalsekretär der Bischöflichen Kommission für Gefängnisseelsorge auf den Philippinen, Rodolfo "Rudy" Diamante. Gemeinsam mit vielen Ehrenamtlichen kümmert er sich um die Gefangenen und deren Familien.
"TokHang" – das "Anklopfen" – ist grausiger Alltag
Die Zustände in den Haftanstalten sind erbärmlich. So auch im Manila City Jail, dem zentralen Gefängnis im Zentrum der Hauptstadt. Über Nacht sind die Menschen zu Hunderten eingepfercht in Großraumzellen, schlafen auf dem blanken Asphalt, haben oft weder Decken noch Matratzen. Tagsüber verteilen sich die Gefangenen über das enge Gelände. Es gibt Ungeziefer und Ratten, 100 Mann teilen sich eine Toilette. Für 700 Menschen ist das Manila City Jail konzipiert, aktuell sind es mehr als 6.000. "Und täglich kommen neue hinzu", informiert Gefängnisdirektor Randel Latoza. Auch Remys Schwiegertochter Lourdes sitzt in einem der Gefängnisse im Großraum Manila. Bei ihrer Festnahme im August 2016, als sie ihren Ehemann Juan nicht verraten wollte, erwartete sie ihr siebtes Kind. Der heute eineinhalbjährige R-Jhay kam im Gefängnis zur Welt, nur wenige Wochen vor dem Tod Juans. Der Vater hat den Sohn nie gesehen. Heute lebt auch R-Jhay bei Großmutter Remy. Lourdes wartet seit Monaten vergebens auf einen gerichtlichen Anhörungstermin.
Lourdes wartet in einem der überfüllten Gefängnisse in Metro Manila auf ihre Freilassung. Foto: Fritz Stark
"Wenigstens wurde Lourdes während des 'TokHang' nicht auch erschossen", sagt Remy. "TokHang" – so nennen die Menschen auf den Philippinen umgangssprachlich das Vorgehen der Todesschwadronen. Es bedeutet übersetzt "Anklopfen" und meint das Klopfen an die Tür der vermeintlichen Dealer, die auf den Drogenlisten stehen. Kurz nachdem das "TokHang" in den Armenvierteln zum grausigen Alltag wurde, hat der Vinzentinerpater Daniel "Danny" Pilario in Payatas dieTreffen für Hinterbliebene wie Remy ins Leben gerufen. Die Familien der Opfer kommen verzweifelt, mittel- und hilflos zu ihm. Von Nachbarn und einstigen Freunden werden sie gemieden, keiner will in den Verdacht geraten, ebenfalls etwas mit Drogen zu tun zu haben. Die Treffen mit dem 56-Jährigen und seinem Team aus Psychologen und Sozialarbeitern sind für die Hinterbliebenen oft der einzige Halt. Hier können sie sich austauschen über ihre Trauer, ihre Wut, ihre Nöte. Hier erhalten sie eine kleine finanzielle Hilfe. "Wenn die Angehörigen das erste Mal zu uns kommen, können sie kaum über das Erlebte sprechen. Nicht selten geschehen die Hinrichtungen direkt vor den Augen der Frauen, Mütter und Kinder", erzählt Pilario.
"Es ist ein Krieg gegen die Armen"
"Das hier ist kein Krieg gegen die Drogen, es ist ein Krieg gegen die Armen", so fasste Schwester Crescencia "Cres" Lucero die Lage auf den Philippinen zusammen. "Erst wurde Duterte von den Armen gewählt, jetzt tötet er sie." Die Ordensfrau war die Vorsitzende der katholischen Menschenrechtsorganisation 'Task Force Detainees of the Philippines' (TFDP) – sie starb wenige Monate nach Erscheinen dieser Reportage auf einer Dienstreise nach Indonesien an einem Schlaganfall. Gemeinsam mit rund 200 Mitgliedern kämpfe Cres Lucero seit dem diktatorischen Regime von Präsident Ferdinand Marcos für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrer Heimat. "Was gerade auf den Philippinen vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschieht, ist sinnloses Töten ohne Recht und Gesetz. Die Polizei fälscht einfach Beweise, um die Morde zu rechtfertigen. Sie legen den Toten eine Pistole in die Hand oder stecken ihnen Päckchen mit Drogen in die Hosentasche. Es ist widerwärtig." Es gelte als offenes Geheimnis, dass die Polizisten für die Ermordeten Kopfgelder kassieren. Natürlich habe sie von Duterte nichts Gutes erwartet. Schließlich habe er als Bürgermeister der Millionenstadt Davao bereits bewiesen, dass er im Kampf gegen Drogen und Verbrechen gnadenlos vorgehe. "Doch dass es so schlimm kommen würde, haben wir nicht für möglich gehalten. Nacht für Nacht werden Menschen getötet. Anfangs standen wir alle unter Schock. Jetzt ist es zum Alltag geworden. Das ist das Schlimmste."
Was Schwester Cres nie verstehen konnte: Viele Bürger auf den Philippinen halten das harte Durchgreifen des Präsidenten im Anti-Drogen-Kampf für durchaus angemessen. "Sogar unter hohen Kirchenvertretern gibt es einige, die Dutertes Methoden gutheißen", berichtete die Schwester. Die Ignoranz der Masse machte sie fassungslos: "Sie sehen einfach nicht, wie abgrundtief unmenschlich das Vorgehen ist. Menschen werden erschossen, ohne Gerichtsprozess, ohne Chance auf eine faire Verhandlung. Wenn dann manche über die Toten von 'Kollateralschäden im sinnvollen Kampf gegen Drogen' sprechen, dann frage ich mich, ob diese Menschen noch ruhig schlafen können."
"Was würden Menschen wie Remy ohne uns tun?" – Danny Pilario kümmert sich um die Angehörigen der EJK-Opfer. Foto: Fritz Stark
Schwester Cres, Danny Pilario und Rudy Diamante – die drei mutigen Kirchenleute in MetroManila stellten und stellen sich im Kampf gegen das Töten offen gegen die Regierung. Seit im Herbst 2017 in Zentral-Luzon ein katholischer Priester auf offener Straße aus ungeklärten Umständen erschossen wurde, ist die Angst allgegenwärtig. "Bis dahin dachten wir, sie trauen sich an Kirchenvertreter nicht heran. Jetzt wissen wir, dass sie vor nichts zurückschrecken", sagte Schwester Cres. Doch die Angehörigen der Opfer im Stich zu lassen, kommt für die Kirchenleute unter keinen Umständen in Frage. "Was würden Menschen wie Remy ohne uns tun?", fragt Danny Pilario. Gemeinsam mit seinen Helfern hat er in diesen Tagen eine neue Bleibe für die alte Frau und ihre Enkelkinder organisiert. Weg von Payatas, weg von den stinkenden Müllhalden des Viertels. Für den Schulbesuch der Kinder ist dort gesorgt. Jetzt muss Remy durchhalten, bis ihre Schwiegertochter Lourdes eines Tages aus dem Gefängnis entlassen wird.