WARUM NICHT mit Mahatma Gandhi beginnen? Schließlich markierte der gewaltlose Kampf des Asketen und seiner Anhänger für ein freies Indien einst den Aufbruch des Landes. Gandhi setzte sich ein für einen säkularen Staat. In diesem sollten die rund 700 indigenen Gemeinschaften friedlich zusammenleben. Hindus, Muslime, Christen oder Sikhs ihre Religion frei ausüben können. Er wurde von einem Hindu-Extremist erschossen. Fast 80 Jahre später und nach zehn Jahren hindu-nationalistischer Regierung steht Indien vor dem Scherbenhaufen dieser Idee, auf die die Welt einst fasziniert geblickt hatte.
In keinem anderen Land in Asien hat missio München so viele Partnerinnen und Partner wie in Indien. 224 Projekte fördert das internationale Hilfswerk derzeit auf dem Subkontinent. Viele davon im Nordosten, der eingekeilt zwischen Bangladesch, China und Myanmar liegt und nur über einen schmalen Korridor mit Zentralindien verbunden ist. Regelmäßig reisen die für die Projekte zuständigen missio-Referentinnen ins Land. Aber ein Visum zu bekommen, wird immer schwieriger. Zuletzt stellte missio-Präsident Monsignore Wolfgang Huber einen Antrag auf Einreise. Er wurde abgelehnt. Stattdessen: Verstörende Bilder im Netz und YouTube-Videos von brennenden Kirchen und überfüllten Camps für Vertriebene. „Manipur wird nie wieder sein wie vorher“, titelt die renommierte Tageszeitung „Daily Shillong“. Partner senden Hilferufe per Mail – über Umwege, denn das Internet wird seit Wochen blockiert. Sie bitten um finanzielle Hilfe für Nahrungsmittel, Decken und warme Kleidung.
Die „Tribes“ übernehmen selbst die Justiz.
Was ist los in Nordostindien – der Region, in die es inzwischen besonders für Christen gefährlich bis unmöglich scheint, einzureisen? Eine Chronologie der Geschehnisse: Im Mai kommt es im Bundesstaat Manipur zu Auseinandersetzungen zwischen den zwei dominierenden „Tribes“, den Meitei und den Kuki. Es ist nicht das erste Mal, dass Volksgruppen im ethnisch bunten Nordosten aneinandergeraten. Meist geht es um Land, um Zugang zu Bodenschätzen oder einfach darum, wer das Sagen hat. Dass dieser Konflikt von einer neuen, brutalen Qualität ist, zeigt sich schnell: Ganze Dörfer brennen, Frauen werden vom Mob durch die Straßen getrieben und vergewaltigt, Menschen geköpft und erschossen mit Waffen aus Polizeistationen oder vom Militär, an die 300 Kirchen dem Erdboden gleich gemacht.
Kuki vs. Meitei
Als Minderheit gehören die fast zu 100 Prozent christlichen Kuki zu den sogenannten „Scheduled Tribes“, den „gelisteten Volksgruppen“. Dadurch profitieren sie von staatlichen Förderprogrammen. So ist beispielsweise eine bestimmte Anzahl von Arbeits- oder Studienplätzen in einer Region für sie vorgehalten. Sie haben einfacheren Zugang zu Land. Auslöser des blutigen Konflikts war eine Ankündigung der Regierung, die überwiegend hinduistische Meitei-Mehrheit ab sofort in diese Liste mitaufzunehmen. Eine Entscheidung, durch die sich die Kuki bedroht fühlen.
Eine lange Geschichte des Misstrauens also, deren Hintergründe bis in die Kolonialzeit zurückreichen. Die Briten hatten einst die Meitei bevorzugt und mit politischer und wirtschaftlicher Macht ausgestattet. Während diese das fruchtbare Tal bewohnten, zogen sich die Kuki in die Bergwälder zurück. In den vergangenen Jahren wies der indische Staat dort jedoch immer mehr Schutzgebiete aus. Die Kuki verloren Land. Nun gingen sie auf die Straße – und die Meitei beantworteten den Protest mit Gewalt. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden in Manipur seither an die 200 Menschen getötet, die meisten waren Kuki. Rund 70 000 Menschen wurden vertrieben.
Zehntausende wurden vertrieben. Niemand weiß, wie lange Hilfe nötig sein wird.
Eine Mail an den Salesianerpater Roy George. Gerade erst hat der Direktor des Don-Bosco-Projektbüros um Unterstützung gebeten für zunächst einmal Hunderte von Menschen, die über sein Team in Zentral-Manipur Zuflucht gefunden haben. Die Antwort kommt sofort: „Es fehlt an Essen und Matratzen! Die Menschen schlafen auf dem Boden. Und wir brauchen Decken und warme Kleidung, denn die Nächte sind kalt.“ Fr. Roy sorgt sich besonders um Kinder und Ältere. An Medikamente ist kaum heranzukommen. Von der Regierung sei außer Militär kaum etwas zu sehen, beklagt er.
Fast sechs Stunden braucht der Ordensmann für die 160 Kilometer von seinem Büro zu den Camps im Imphal-Tal, rund um die gleichnamige Distrikt-Hauptstadt. Checkpoints, die inzwischen die Tribes übernommen haben, kosten ihn Zeit. Dennoch nimmt er die Reise so oft wie möglich auf sich. „Es treibt mir die Tränen in die Augen“, gesteht er. Er wisse von 346 Lagern, manche größer, manche kleiner. Auch Meitei sind obdachlos geworden. Gewalt und Gegengewalt, die alte Geschichte. Psychologen der Salesianer sind vor Ort unterwegs. Aber die meisten wollen nicht öffentlich über das Erlebte sprechen. Zu groß ist die Angst vor Vergeltung.
Schweigen der hindu-nationalistischen Mehrheit
Dann kommt eine Nachricht über einen anderen Kontakt. Eine Frau möchte dem missio magazin berichten. Keine Namen, kein Foto. Sie wohnte vor dem Konflikt mit ihrer Familie in einem Dorf westlich von Imphal. Als die Kirche in Flammen stand, riefen die Brandstifter: „Tötet alle Kuki, vertreibt sie aus unserem Land!“ Auch Fr. Roy George hat solche Geschichten gehört. Er ist davon überzeugt, dass die Eskalation provoziert wurde: „Die Kuki wurden zur Zielscheibe.“
Seit zehn Jahren an der Macht: Premier Narendra Modi vertritt einen Staat, in dem Minderheiten wie Christen immer weniger Platz haben.
Was der Salesianerpater damit meint, erklärt Nirmalini Nazareth. Die Provinzoberin der Apostolic Carmel Sisters, die an der Spitze von rund 200 kirchlichen Schulen in Indien steht, wählt deutliche Worte. Sie gehört zu den wenigen öffentlichen Kritikern der Politik von Premier Narendra Modi. Der scharfe Ton der Regierung gegenüber Andersgläubigen bereitet ihrer Arbeit schon seit einigen Jahren Schwierigkeiten. Über eine Vereinigung von Ordensschwestern bringt sie nun auch Nothilfe für Vertriebene in Manipur voran. Selbst hinfahren kann sie nicht: Sr. Nirmalini wurde von der Regierung mit einer Reisebeschränkung belegt und steht unter Beobachtung.
„Wir haben das Gefühl, dass sich das System gegen uns richtet“, schreibt Sr. Nirmalini. Die Vorgänge in Manipur bezeichnet sie, Aussagen von Menschenrechtsaktivisten zufolge, als „ethnische Säuberungen“. Die Regierungen der Bundesstaaten und die Zentralregierung würden nichts dagegen unternehmen. Die Gewalt gegen Christen habe zugenommen. Deren Einrichtungen und Kirchengemeinden würden bedroht. Das in einigen Bundesstaaten eingeführte Anti-Konversionsgesetz werde als Mittel eingesetzt, um Christen anzuklagen.„Das Schweigen der Inder dazu ist ohrenbetäubend und beunruhigend“, sagt Sr. Nirmalini.
Thomas Menamparampil: Schwieriger Dialog zwischen den radikalisierten Gruppen
Das Stichwort für Thomas Menamparampil. Wenn jemand weiß, wie man in den Dialog einsteigt, dann der emeritierte Erzbischof von Guwahati. Menamparampil genießt hohes Ansehen im ganzen Land. Er hat schon bei vielen Konflikten vermittelt und Vertreter verfeindeter Ethnien an einen Tisch geholt. Längst geht es nicht mehr nur um Land oder Einfluss. Auch die Konfession schwingt mit in einem Indien, dessen Premierminister nach der Losung „Ein Land, ein Glaube“ agiert und die Radikalisierung national-religiöser Gruppen billigt.
Also eine weitere Mail, dieses Mal an Thomas Menamparampil, inzwischen 87 Jahre alt. Die Antwort kommt prompt – und ist knapp: Er sei auf dem Weg zum Flughafen. Er melde sich. „Unser Friedensteam kämpft“, erklärt Menamparampil wenig später. Fünfmal war er in Manipur, seit die bürgerkriegsähnlichen Zustände die Region überrollt haben. Entgegen dem Rat vieler, die um seine Sicherheit besorgt waren. „Immerhin haben wir es geschafft, dass Führer beider Gemeinschaften zusammenkamen und einen Friedensappell abgegeben haben“, berichtet der frühere Erzbischof. Doch sei die Botschaft kaum spürbar. Zum ersten Mal fühle er sich hilflos, da die betroffenen Tribes offenkundig von politischen Gruppen beeinflusst würden. „Wir sind nicht sicher, ob die Menschen überhaupt noch eine Chance haben, ihre eigenen Entscheidungen für einen Frieden zu treffen.“
Father Varghese Velickakam: „Alles, was wir als Kirche tun, steht jetzt auf dem Prüfstand.“
Unterdessen schickt auch Fr. Varghese Velickakam, der für die Erzdiözese Imphal Hilfe vor Ort koordiniert, ein Handyvideo aus einem der Camps, Familien, Babys auf der blanken Erde. Er fragt: „Wie lange können wir das durchhalten?“ Velickakam befürchtet eine humanitäre Katastrophe für die Betroffenen – und noch schwierigere Zeiten für diejenigen, die helfen. „Alles, was wir als Kirche tun können, steht jetzt auf dem Prüfstand. Wir werden weiter eingeschränkt werden – in der Arbeit und als Christen.“