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12. Juni 2024
Reportage:   Christian Selbherr   Fotos: Jörg Böthling
Reportage aus dem Südsudan

Geflohen, gestrandet und gefährdet

Bis zu 2000 Menschen erreichen die Grenz stadt Renk im Südsudan. Jeden Tag. Sie kommen herüber aus dem Sudan, wo seit April 2023 grausame Kämpfe toben und fast das ganze Land zerrissen haben. Die Menschen fliehen in den Süden, der jedoch selbst kaum überleben kann.
12. Juni 2024
Text: Christian Selbherr   Fotos: Jörg Böthling

S√úDSUDAN, Malakal, Flughafen, zerst√∂rte Departure Hall mit wartenden Transit Flugg√§stenIm Niemandsland zwischen beiden Ländern: Täglich erreichen viele Menschen die Grenze.UND DANN STEIGT auch noch der Vollmond über dem Flüchtlingslager auf. Es ist ein Tag Ende Januar 2024 in der kleinen Stadt Renk an der Grenze zwischen Sudan und Südsudan. Nicht nur, dass man hier gerade den Vollmond sehen kann. Nein, es ist auch noch die Woche, in der Japan eine erfolgreiche Mondmission vermeldet hat. Während es also der Menschheit zum x-ten Mal gelungen ist, auf einem anderen Planeten zu landen, scheitert sie hier unten zum wiederholten Male daran, eine humanitäre Krise in den Griff zu bekommen. 

Als im April 2023 die Kämpfe zwischen Armee und Rebellen in Sudans Hauptstadt Khartum  ausbrachen, hoffte man zunächst darauf, dass sich die Lage bald beruhigen möge. Die ersten Flüchtlinge auf südsudanesischer Seite kamen schnell irgendwo unter. Ein leerstehender Komplex der Universität von "Upper Nile" wurde zum Durchgangslager erklärt. Eine evangelische  Kirchengemeinde gab ein Stück Land, auf dem Geflüchtete campieren  durften. Kurzzeitig, hieß es. Man spricht bis heute nicht so sehr von Flüchtlingen, sondern von "Rückkehrern". Weil traditionell viele Südsudanesen in den Norden ausgewandert waren, um dort Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Ihre Verwandten würden sie  aufnehmen, hoffte man.

Lage in ehemaliger Heimat nicht mehr sicher

mm 4 2024 Suedsudan Gabriel LangGabriel Lang: Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen."Wie das gehen soll, fragt sich Gabriel Lang. Er kam mit den ersten Flüchtlingen im April nach Renk. Über 20 Jahre seien manche schon weg von zu Hause, es gebe hier keine Familie mehr, die sie aufnehmen könne, und ihr Stück Land sei nun von anderen besiedelt. Er hat außerdem gehört, dass die Lage im ehemaligen Heimatdorf nicht sicher sei. "Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen", sagt er, während sich in Sichtweite einige Jungen auf dem staubigen Boden einen selbstgemachten Fußball zuschießen. "Also bleiben wir hier." Sie leben im "Camp Zero", das ist eine inoffizielle Ansammlung von provisorischen Behausungen aus Plastikplanen und altem Holz. Essen können sie höchstens einmal am Tag, wenn überhaupt, sagt Gabriel Lang. Der Südsudan ist selbst geplagt von vielen Dingen – marodierende Banden bekriegen sich um Viehbesitz und Zugang zu Ölfeldern. Millionen Menschen sind von Hungersnöten bedroht. Auf "Rückkehrer" aus dem Norden hat hier niemand gewartet.

Aber nun sind sie eben da. Und täglich werden es mehr. Bis zu 2000 sind es, die jeden Tag über den Grenzposten Joda nach Renk kommen. Bis Mitte Mai 2024 hat der Südsudan fast 700 000 Flüchtlinge aus dem Sudan aufgenommen. Die Lage im Sudan gehört zu den vernachlässigten Dramen unserer Zeit. Jedes einzelne Schicksal hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.

Eines der vernachlässigsten Dramen unserer Zeit

Hamad Atiab Hamad kommt aus Khartum. "Ich hatte dort ein kleines Geschäft, ich habe Mobiltelefone und Ersatzteile verkauft", berichtet er. "Plötzlich kam der Krieg, alles explodierte." Und mit ruhiger, sachlicher Stimme fährt er fort: "Neben mir wurden drei meiner Brüder in den Tod gerissen, als eine Landmine hochging. Ich habe bei der Explosion mein linkes Bein verloren." Inzwischen ist die Wunde einigermaßen verheilt. Hamad Atiab nutzt eine Krücke, um gehen zu können, der Fuß ist dick eingebunden. Seine Familie lebt noch auf der anderen Seite der Grenze. Er hadert damit, dass er sie jetzt nicht mehr ernähren kann.

Den Mut hat er nicht aufgegeben. "Wir organisieren uns, so gut es geht. Ich bin Sprecher einer Gruppe von Männern mit Behinderung geworden. Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge an. Ich kümmere mich um diejenigen, die eine Körperbehinderung haben, so wie ich, und versuche, ihnen zu helfen.“ "Die Menschen hier leiden bittere Not," sagt André Atsu Agbogan. Er ist der Ostafrika-Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, hier bekannt als "JRS" ("Jesuit Refugee Service"). Dass die Flüchtlinge nach wenigen  Tagen weiterreisen sollen, sei völlig unrealistisch, sagt er. Der JRS versucht, den Menschen zu helfen, die am meisten Hilfe brauchen. Junge Frauen mit kleinen Kindern zum Beispiel, und Männer und Frauen mit einer körperlichen Behinderung. 

Gewalt und Missbrauch drohen überall

mm 4 2024 Suedsudan neues ZuhauseNeues Zuhause: Wo bisher Zelte standen, entstehen jetzt stabilere Unterkünfte. Die Menschen werden wohl noch länger bleiben müssen.Das Gespräch einer vom JRS eingeladenen Selbsthilfegruppe hat schon fast eine Stunde gedauert, da spricht Silviana Joseph an, was viele wissen und nur wenige offen sagen: Als Frau mit körperlichem Handicap – sie ist gehbehindert – lebt sie auch hier in ständiger Gefahr. Gewalt und Missbrauch lauern in den beengten Verhältnissen, in denen die Flüchtlinge untergebracht sind. Silviana Joseph formuliert es so: "Wenn ein Mann in ein Zelt kommt und uns angreift, sind wir nicht stark genug, um  wegzulaufen." Frauen mit Gehbehinderung müssen oft ihre Kinder zum Wasserholen an einen Brunnen schicken – auch das kann gefährlich sein.

Trotz allem spürt man hier eine Atmosphäre der Erleichterung, der vorsichtigen Ruhe. Wer es bis hierher geschafft hat, konnte zumindest den größeren Schrecken hinter sich lassen. Doch wie wird es jetzt weitergehen? Noch haben es Vereinte Nationen, Regierung und Hilfsorganisationen nicht offen ausgesprochen, doch eigentlich ist klar: Die Lage wird zum Dauerzustand werden. Am deutlichsten zeigt sich das beim Thema Schule. Im ersten Jahr nach Beginn der Krise gingen die Kinder der Flüchtlingsfamilien nicht zur Schule, sie blieben einfach in den Auffangzentren. Es sollte ja nur eine Durchgangsstation sein. Doch die Realität ist längst eine andere. Familien, die vorläufig nicht mehr weiterziehen können, fragen in den Schulen von Renk, ob es denn nicht einen Platz gäbe für ihre Kinder. 

Ein Beamter aus der Schulbehörde führt durch eine dieser Schulen. Gerade sind noch Ferien. Betrieb herrscht trotzdem. Eine Gruppe von Lehrkräften hat sich freiwillig zusammengetan, um Flüchtlingskinder zu unterrichten. Es sei kein regulärer Unterricht, erklärt der Regierungsvertreter. "Sie geben Englischkurse, als Vorbereitung für das neue Schuljahr." Im Sudan dominiert Arabisch und ist auch die Unterrichtssprache. Im Südsudan dagegen wird in der Schule Englisch gesprochen. Kinder, die im Unterricht mitkommen möchten, müssen eine neue Sprache lernen. Bald werden Flüchtlingskinder in der Schule sein, ob es nun offiziell gewünscht ist oder nicht. 

Wie lange reichen die Gelder für Hilfsmaßnahmen?

mm 4 2024 Suedsudan SchuleDas Schuljahr hat begonnen – doch die Schulen in Renk sind in einem erbärmlichen Zustand.Nicht weit entfernt liegt die katholische Grundschule der Comboni-Schwestern. Hier warten Mütter und Väter geduldig vor dem Büro der Schulleiterin. Sie wollen ihre Kinder anmelden. Und Schwester Susan Amony Atube nimmt sie auf. Die Ordensfrau aus dem Nachbarland Uganda sagt: "Wir haben jetzt eine Klasse für Flüchtlingskinder, die wir am Nachmittag anbieten. Vormittags läuft der normale Unterricht." Vorläufig sind beide Klassen getrennt. Aber sie werden wohl bald verschmelzen,  Flüchtlingskinder und Einheimische werden nebeneinander im Klassenzimmer sitzen. 

Wie lange reichen die Gelder für Hilfsmaßnahmen? Das Südsudan-Programm der Vereinten Nationen ist unterfinanziert, viel mehr Geld fließt nach Gaza und in die Ukraine. Bleibt da noch Mitgefühl übrig für eine vergessene Krise wie diese? Und wie lange reichen überhaupt die Unterkünfte in den Transitzentren, die jetzt schon überfüllt sind? Im neuesten Aufnahmelager bauen sie gerade dauerhafte Behausungen – ein Fundament, ein solides Holzgerüst, ein festes Dach. Noch bevor sie fertig sind, drängen sich neu angekommene Flüchtlinge schon um die Plätze. Wer keinen ergattert, spannt eine Stoffplane auf und schläft darunter. 

Und als der letzte Lastwagen für den heutigen Tag eintrifft, geht erneut ein großer Trubel los. Kinder werden von der Ladefläche gehoben und zu ihren Eltern hinuntergereicht. Frauen schleppen Koffer und Taschen, oder was sie eben retten konnten. Die Schlafplätze im Camp sind freilich schon alle vergeben. So werden die Neuankömmlinge pragmatisch sein müssen. Während die Sonne unter- und der Vollmond langsam aufgeht, sinken sie einfach auf den Boden nieder. An Ort und Stelle im Sand werden sie heute übernachten. Morgen beginnt die  Überlebenslotterie wieder von Neuem. 

Wenn Sie die Flüchtlinge im Südsudan mit einer Spende an unsere Projektpartner vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst unterstützen möchten, finden Sie hier weitere Informationen>>

 

Sudan und Südsudan – 12 Monate Krieg und kein Ende

Schon zu Zeiten des langjährigen islamistischen Herrschers Bashir war die Region Darfur Schauplatz grausamer Kämpfe. Die Reitermiliz "Janjaweed" (übersetzt etwa: "berittene Teufel") fiel in Dörfer und Städte ein und trieb tausende Menschen in die Flucht. Ehemalige Janjaweed-Kämpfer sind es nun offenbar auch, die das Rückgrat der "Rapid Support Force" (RSF) bilden, jener Rebellengruppe, die sich im bewaffneten Konflikt mit der regulären Armee des Sudan befindet. Im April 2023 war es zunächst die Hauptstadt Khartum, in der dieser Krieg begann. Inzwischen hat er sich über weite Teile des Landes ausgebreitet. Bis Ende April 2024, ein Jahr nach Beginn der Gewalt, sind mehr als 8 Millionen zur Flucht gezwungen worden, die meisten zunächst  innerhalb des Landes. Wer das Land verlässt, geht in den Tschad, nach Ägypten oder in den Südsudan. Wer nicht rechtzeitig fliehen kann, befindet sich in schier auswegloser Lage.

Die Nachrichtenagentur Fides aus Rom berichtet aus Darfur: "Lebensmittel sind zu einer Waffe geworden: Beide Kriegsparteien verhindern, dass Konvois mit Nahrungsmittelhilfe, die von  umanitären Organisationen geschickt werden, in die vom Gegner kontrollierten Gebiete fahren." Hinzu kommen Vorwürfe über schwere Menschenrechtsverletzungen durch das Militär und die Milizen. Es geht um sexuelle Gewalt, Folter und Massenhinrichtungen. Hinter der RSF stehen Saudi Arabien, die Arabischen Emirate und wohl auch die ehemalige Söldnergruppe Wagner aus Russland. Die Armee des Sudan wird noch gestützt von Ägypten, Türkei und Iran. Weitere Hintergründe bietet eine aktuelle Folge aus dem missio-Podcast „Reisewarnung”.

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