Nur noch um die nächste Ecke, dann sind wir da! Die kleine Honorine weiß, wo sie ihre Mama finden kann. Obwohl Honorine ja kaum fünf Jahre alt ist. Das Mädchen findet sich im Gewühl des Marktes von Lomé bestens zurecht. Sie weicht den wilden Mopedfahrern aus, schlüpft zwischen den Erwachsenen hindurch, die durch die Straßen eilen. Dann biegt sie noch einmal in eine Seitengasse hinein: "Da ist sie!"
30 Cent für einen Lastenträgerdienst
Ihre Mutter steht vor einem kleinen Laden. Eine Boutique, die nur aus einem kleinen Raum mit einem vergitterten Fenster besteht. Doch Akos Attiogbe ist nicht zum Einkaufen da – sie wartet auf Kunden vor dem Geschäft, das einem Mann aus Kamerun gehört. Nur ganz kurz nimmt sie ihre Tochter zur Begrüßung in den Arm. Dann kommt auch schon die Kundschaft.
Jemand hat im Laden einen Karton voller Schuhe gekauft. Jetzt will er, dass ihm die Ware zu seinem Auto getragen wird. Einige Straßen weiter weg hat er es geparkt. Diesen Job übernimmt Akos Attiogbe. Für ihren Trägerdienst wird sie 200 Francs CFA bar auf die Hand bekommen – das sind 30 Cent. Aber schnell soll es gehen, fordert der Ladenbesitzer. Zeit ist Geld. Wenn der Wagen voll ist, will der Käufer hinaus aufs Land fahren, wo er die Schuhe dann in seinem Heimatort weiterverkaufen wird. So laufen die Dinge in Togo, Westafrika. Alleine schafft es Frau Attiogbe gar nicht, den schweren Karton hochzuheben. Eine Kollegin hilft ihr. Der Karton lagert nun auf ihrem Kopf, und drückt die Trägerin leicht in die Knie. Dann marschiert sie los.
Gefahr durch Menschenhändler
Aber Halt, was soll mit ihrer Tochter so lange passieren? Soll sie etwa alleine zurückbleiben? "Nein, das wäre viel zu gefährlich", sagt Akos Attiogbe. Leicht könnte ihre Tochter in dem Gewühl verlorengehen. Ja, es soll sogar Menschenhändler geben, die den unbeaufsichtigten Kindern auflauern und sie entführen. Akos Attiogbe hat jedenfalls vorgesorgt: Ihre Tochter übergibt sie an eine Mitarbeiterin der katholischen Organisation BNCE. Diese nimmt das Mädchen an der Hand, und führt sie wieder zurück auf die Straße. Nicht weit vom Schuhladen befindet sich das "Centre Dzidudu". Immer nochmittendrin im Markttreiben gelegen, sind hier etwa 40 Kinder tagsüber untergebracht. Ihre Mütter arbeiten alle auf dem Markt, als sogenannte "porte faix", Lastenträgerinnen wie Akos Attiogbe.
In guten Händen: Die Erzieherinnen im Zentrum von BNCE kümmern sich liebevoll. Foto: Jörg Böthling
Die Leiterin des Zentrums heißt Colette Deku. Sie sagt: "Wir geben den Kindern hier Unterricht und bieten ihnen eine sichere Unterkunft." Die Kinder sind im Kindergarten- oder Vorschulalter. "Joseph, an die Tafel", ruft die Erzieherin. Der kleine Junge tapst durch das Klassenzimmer nach vorne, nimmt die Kreide in die Hand, und schreibt kratzend einige Buchstaben an die Tafel: Ein "a", ein "i", ein "o". Auch seine Mutter Junielle arbeitet auf dem Großen Markt von Lomé. Das heißt: Heute arbeitet sie nicht, denn ihr ist etwas passiert.
Ärztliche Versorgung für die Ärmsten
Vor ein paar Tagen, es war schon abends, da stolperte sie über eine Treppenstufe, fiel hin, und verletzte sich am Zeh. "Es wird schon gehen", dachte sie sich wohl, denn sie arbeitete einige Tage weiterhin ihre acht, neun Stunden auf dem Markt. Bis die Schmerzen zu stark wurden. Dann meldete sie sich im "Centre Dzidudu" – und dort sitzt sie nun auf einer Behandlungsliege. Victoire Adjo Nyaku, im weißen Kittel, kümmert sich um sie. Die Krankenschwester wäscht die Wunde am Zeh aus und desinfiziert sie mit einer braunen Jod-Tinktur, damit sich das Nagelbett nicht noch weiter entzündet. Dann zieht sie eine Spritze auf, sticht in Junielles Finger. Junielle stöhnt vor Schmerz auf. Aber es soll helfen. Und vor allem: Sie muss ja möglichst schnell zurück zur Arbeit.
"Ich habe heute noch gar kein Geld verdient", flüstert sie mühsam, während Victoire Nyaku ihr sogar noch eine zweite Spritze mit einem Schmerzmittel gibt. Die Lastenträgerinnen sind jeden Tag aufs Neue davon abhängig, wie gut das Geschäft auf dem Markt gerade läuft – wie viele Ballen Stoff, wie viele Säcke Reis und wie viele Kartons mit Schuhen oder Lederhandtaschen es zu transportieren gibt. Wer krank ist oder sich verletzt, bekommt eben keine Arbeit.
Junielle bekommt eine Spritze – und muss dann gleich wieder zur Arbeit. Foto: Jörg Böthling
Junielle atmet noch einmal durch, bedankt sich, ruft nach ihrem Sohn: "Joseph!" Sie will sich wieder auf den Weg machen. Doch die Krankenschwester Victoire ahnt bereits, dass die Patientin bald wieder versorgt werden muss. Unter Junielles Kleid zeichnet sich bereits deutlich ab, dass sie ein weiteres Baby erwartet. Krankenschwester Victoire fragt nach, wie es geht, und wie die Zukunftsaussichten sind. Immerhin, Junielle kennt den Vater, sie lebt mit ihm zusammen. Vielleicht hat sie eine kleine Chance auf eine gute Zukunft?
Selbst für den ärmsten Schlafplatz wird noch Miete fällig
Viele junge Mädchen kommen aus den ländlichen Dörfern Togos in die Hauptstadt, um dort auf dem "Grand Marché" Arbeit zu finden.Wer niemanden kennt, hat es amschwersten und landetmeistens in einer sogenannten "Maison Portefaix" – so heißen die Unterkünfte nahe des Marktes, in denen viele der Trägerinnen wohnen. Wobei "wohnen" zu viel gesagt wäre: Es ist eben der Ort, an dem sie die Nächte verbringen. Oft liegt das Quartier nur in einem offenen Innenhof, die Frauen und ihre Kinder schlafen unter freiem Himmel, nur zugedeckt mit einer kümmerlichen Plastikplane. Dafür müssen sie Miete bezahlen. 100 bis 200 CFA kostet ein Schlafplatz im Durchschnitt. Pro Nacht. Also fast so viel, wie ein Einsatz als Trägerin auf dem Markt einbringt.
Kein Ort zum Leben: Unter Plastikplanen oder in verlassenen Häusern verbringen die Frauen wie Katerine Adanou die Nacht. Foto: Jörg Böthling
Viele Frauen verdingen sich deshalb noch anderweitig. "Ja, auch Prostitution ist hier eine Realität", bestätigt eine Erzieherin aus dem "Centre Dzidudu". Schwere Lasten auf dem Kopf, viele Kilometer zu Fuß, der karge Lohn – all das kann man sowieso nur als junge Frau bewältigen. Kaum eine der Lastenträgerinnen ist älter als 25 oder 30. Danach sehen sich die meisten nach neuen Jobs um. Gerade ist Katerine Adanou von ihrer Arbeit zurück gekommen. "Ich war früher auch eine Lastenträgerin", sagt sie. "Aber jetzt arbeite ich als Wäscherin."
Heute will sie nach ihrem Sohn sehen. Der junge Charles lebt in einem halbfertig gebauten Haus mit seiner älteren Schwester. Sie teilen sich den Schlafplatz mit acht anderen Leuten. Die Mutter schaut heute vorbei, weil Charles krank geworden ist. In der Apotheke haben sie ihr ein Medikament empfohlen, doch sie weiß nicht genau, ob es helfen wird. Charles atmet schwer, hat fiebrige Augen, wirkt müde. "Verdacht auf Malaria", lautete die Diagnose. Ihre Arbeit als Wäscherin verrichtet Katerine irgendwo am Straßenrand. Auf dem Markt kauft sie sich Waschpulver und Seife, das Wasser zapft sie aus einem öffentlichen Brunnen ab – dann wartet sie auf Kunden. An guten Tagen bringt ihr das 1000 oder sogar 2000 CFA. Aber richtig gute Tage sind in Togo selten geworden. Das Land steckt seit Jahren tief in der Krise, und reich wird nur die Clique der Regierenden. Früher gab es gerade auf dem Markt viele erfolgreiche und einflussreiche Frauen.
Heute dominieren die Chinesen
"Aber heute sind wir alle irgendwie zu 'portefaix' geworden," sagt Adjoa Rita Sikavi, die in ihrer Boutique farbenprächtige Stoffe mit den beliebten afrikanischen Mustern anbietet. Gerade der Handel mit Stoffen symbolisiert Aufstieg und Niedergang des Marktes von Lomé. Bis in die 80er-Jahre hinein kontrollierten Geschäftsfrauen den Handel mit Textilien, die aus edlen Häusern wie "Vlisco" in Holland kamen. Die Händlerinnen hatten auch politischen Einfluss, und ihr Ruf war legendär: Als "Nana Benz", oder "Mama Benz", waren sie in ganz Westafrika bekannt, weil sie sich teure Autos aus Europa leisten konnten. Doch inzwischen hat die billige Konkurrenz aus Asien den Markt übernommen, und die meisten einheimischen Händlerinnen verkaufen nur weiter, was ihnen Importeure aus China liefern.
Hat beim Brand im Markt von Lomé alle ihre Waren verloren: Adjoa Rita Sikavi. Foto: Jörg Böthling
Hinzu kommt, dass das Hauptgebäude des Marktes Anfang 2013 komplett ausbrannte. Mehr als 2000 Händler verloren damals ihre ganze Ware und mussten von vorne beginnen. Wie Adjoa Rita Sikavi. "Die 'Mama Benz' gibt es nicht mehr. Nur noch 'Mama Hyundai'," sagt sie und lacht nur halb im Scherz. Heute kann sie sich kein eigenes Auto mehr leisten. Was für Lastenträgerinnen wie Akos Attiogbe sowieso undenkbar wäre. Sie geht weiterhin zu Fuß, und schleppt mühsam eine Last nach der anderen zum nächsten Auftraggeber. Und während sie gerade wieder in der Menschenmenge verschwindet, taucht ihre Kollegin auf: Es ist Junielle, die eben noch am verletzten Zeh verarztet wurde. Auch sie gönnt sich keine Pause. Die Arbeit ruft.