Der zerstörte Flughafen von Malakal ist wieder in Betrieb.WIE MISST MAN eigentlich Zerbrechlichkeit? Es gibt eine Rangliste, die sich „Fragile State Index“ nennt. Das ist ein Verzeichnis „zerbrechlicher Staaten“. Anhand einer ganzen Menge Kriterien soll deutlich werden, welche Länder gefährdet sind, dass sie demnächst auseinanderbrechen. Auf Platz eins liegt Somalia, dann folgt der Jemen, und schließlich auf dem dritten Rang: der Südsudan.
Wer das seit 2011 unabhängige Land im östlichen Afrika bereist, tut sich leicht, in diese Analyse mit einzustimmen. Die Probleme sind ja überall zu sehen. Rohstoffreichtum? Vorhanden, es gibt reichlich Öl, aber auch Gold und Diamanten. Nur profitiert kaum jemand davon. Müllentsorgung in der Haupstadt Juba? Eher schlecht, die Abfälle türmen sich am Straßenrand. Schulen und Krankenhäuser? Heruntergekommen, schlecht ausgestattet, ignoriert von den staatlichen Verantwortungsträgern. Und die Transportwege in andere Landesteile: sind kompliziert. Das Land ist von großen Sümpfen durchzogen, die viele Gebiete schier unerreichbar machen.
Unterwegs im jüngsten Staat der Welt
Machthaber Salva Kiir Mayardit.So entsteht schnell ein Bild des gescheiterten, unregierbaren Staates. Bis 2018 gab es Krieg, zunächst ausgelöst durch den Konflikt zwischen Präsident und Vizepräsident, bald aber ausgeweitet auf unzählige rivalisierende Gruppen, die leichten Zugang zu Waffen hatten – noch immer sind genügend aus früheren Kriegszeiten im Umlauf – und die sich eben selbst holen wollten, was ihnen die Zentralregierung in der Hauptstadt Juba oder ihr lokaler Gouverneur nicht zugestehen wollten: Eine gerechtere Verteilung, Zugang zu Ämtern und Jobs, einen Platz in der neuen Nation, die ja immer noch unter dem Label „jüngster Staat der Welt“ firmiert. Obwohl die Mächtigen inzwischen in die Jahre kommen. An der Spitze steht seit 2011 Salva Kiir Mayardit, bekannt für seine extravaganten Cowboyhüte, von denen er einen vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush geschenkt bekam.
Lohnt es sich, hinzuschauen? Oder wird jede Hilfe angesichts der vielfachen Probleme sowieso vergeblich sein? Als Katholik kann man zum Beispiel darauf hören, was der Papst in Rom dazu meint. Franziskus, der Jesuit aus Argentinien, hat die Fragen der weltweiten Gerechtigkeit klarer angesprochen als die meisten seiner Vorgänger. Den Südsudan hat er schon lange auf seiner Agenda. 2019 kam es in Rom zu einer überraschenden Geste, als Franziskus vor den verfeindeten Politikern Salva Kiir und Riek Machar niederkniete und ihnen nacheinander die Füße küsste – es sollte ein Zeichen der Demut und ein Ansporn für eine dauerhafte Versöhnung sein.
Der Papst im Südsudan: "Pilgerreise für den Frieden"
Der Nil ist oft die einzige Verbindnung, um Waren von der Hauptstadt Juba in weit entfernte Landesteile zu transportieren.2023 schließlich konnte Franziskus seinen lange geplanten Besuch im Südsudan verwirklichen. Er bezeichnete das als „Pilgerreise für den Frieden“ und rief den Gläubigen damals zu: „Lasst die Zeit des Krieges hinter euch. Keine Gewalt mehr, und kein Blutvergießen.“ Genau ein Jahr später schickte der Papst nun erneut einen hohen Kirchenmann in den Südsudan. Kardinal Michael Czerny, zuständig für die Behörde im Vatikan, die sich um die „ganzheitliche Entwicklung des Menschen“ kümmern soll.
Czerny ist Jesuit wie Franziskus, er wurde in der Tschechoslowakei geboren und wuchs in Kanada auf, wohin seine Eltern mit ihm ausgewandert waren. Als er nun am Sonntag gegen Mittag die St. Theresa-Kathedrale von Juba betritt, trägt er nicht nur den edlen Ornat des Kurienkardinals, sondern er hat sich auch ein besonderes Kreuz umgehängt, das er regelmäßig trägt. Es wurde aus dem Holz eines Bootes gefertigt. Ein Flüchtlingsschiff, das auf der Insel Lampedusa gestrandet war
Vielleicht kommt auch der Präsident, hat es zuvor geheißen. Immerhin sei Salva Kiir ja Katholik, und es soll früher sogar mal eine eigene Sitzbank für ihn in der Kirche reserviert gewesen sein, wenn man den Erzählungen glauben darf. Aber dieses Sofa gibt es nicht mehr, und auch der Präsident erscheint dieses Mal nicht. „Er zeigt sich nicht gerne dort, wo er an seine Pflichten erinnert wird“, sagt Pater Gregor Schmidt. Der in Berlin geborene Comboni-Missionar lebt seit 2009 im Südsudan. Wenige Tage vor Ankunft des Besuchs aus dem Vatikan wurde er angefragt, um wesentliche Textteile für die Predigt beizusteuern. Pater Gregor, der sich selten scheut, politische und gesellschaftliche Missstände im Südsudan klar zu benennen, hat einige starke Botschaften formuliert.
"Es ist ein kritischer Moment im politischen Leben Ihres Landes"
Hoher Besuch, tadelnde Worte: Die Parlamentssprecherin und der Vizepräsident sitzen im Gottesdienst und hören die Worte des Kardinals.Doch bevor Kardinal Michael Czerny das Wort ergreift, fahren noch zwei dunkle Limousinen auf dem staubigen Kirchhof vor. „VP2“ steht auf einem der Autokennzeichen. Der „Vizepräsident Nummer 2“ entsteigt dem Wagen. Das Land hat fünf Vizepräsidenten, der bekannteste ist Riek Machar, Salva Kiirs langjähriger Widersacher. Dr. James Wani Igga ist der zweite von fünf, er ist zuständig für die Wirtschaft des Landes. Neben ihm in der Kirche nimmt Jemma Kumba Platz, die Parlamentspräsidentin. Und dann müssen sie zuhören, was der Kardinal aus Rom ihnen zu sagen hat: „Es ist ein kritischer Moment im politischen Leben Ihres Landes,“ mahnt er alle Anwesenden, nicht nur die beiden Politiker.
Aber die Richtung ist klar: „Während Sie sich auf die Wahlen vorbereiten, beten und arbeiten Sie hart dafür, dass diese fair, transparent und glaubwürdig, gewaltfrei und friedlich verlaufen.“ Es wären die ersten Wahlen überhaupt seit der Unabhängigkeit. Bis jetzt ist jede Regierung offiziell nur „übergangsweise“ im Amt. Die jetzige Regierung trägt sogar den ziemlich ungewöhnlichen Titel: „Wiederbelebte Übergangsregierung der nationalen Einheit“.
Die Stimme der Kirche hat Gewicht
Jetzt trägt der Kardinal vor: „Ein friedlicher Machtübergang beweist nicht nur politische Reife, sondern ermöglicht auch gute Regierungsführung und ganzheitliche Entwicklung – und beide Dinge sind dringend nötig.“ Die Stimme der Kirche hat Gewicht, weil der Sudan für die katholische Kirche seit jeher ein Kernland in Afrika ist. Ordensgründer Daniel Comboni aus Italien kämpfte im 19. Jahrhundert gegen die Sklaverei und für die Befreiung der schwarzafrikanischen Völker. 1881 starb Comboni in Khartum. Im 20. Jahrhundert wurden Katholiken von islamistischen Herrschern ausgewiesen, doch sie kamen wieder. Vor allem ab den 2000er-Jahren organisierten kirchliche Einrichtungen die Schulbildung, predigten Frieden und Gerechtigkeit und begleiteten den Süden so auf seinem Weg in die Unabhängigkeit.
Eines der Armenviertel in der Hauptstadt Juba.Trotzdem kommt man nicht an der Tatsache vorbei, dass auch die Kirche auf ihrer Wegstrecke seit der Unabhängigkeit die eine oder andere falsche Abzweigung genommen hat. Wenn von einem „Failed State“ die Rede ist, von einem gescheitertenStaat, dann benutzen manche Beobachter parallel dazu den Begriff der „Failed Church“. Während der unruhigen Jahre nach 2011 blieben Bischofssitze jahrelang vakant, es fehlte am geeigneten Personal, und wohl auch am Vertrauen aus Rom. An manchen Orten stehen halbgebaute Großkirchen herum, bei denen offenbar das zugeteilte Budget in anderen Kanälen verschwunden ist. Auch die Kirche blieb nicht verschont von Rivalitäten, die entlang ethnischer Stammeslinien verliefen. Trauriger Höhepunkt war wohl das Attentat auf den italienischen ComboniMissionar Christian Carlassare im April 2021. Rom hatte ihn gerade zum neuen Bischof von Rumbek bestimmt, da schossen ihm Attentäter in die Beine. Wie man heute weiß, wollte man ihn von seinem neuen Bischofssitz vertreiben, bevor er überhaupt richtig angekommen war. Konkurrenten hatten sich ebenfalls Hoffnung auf das Amt gemacht. So ist ein Auftritt wieder des kanadischen Kardinals aus Rom vielleicht auch dazu gedacht, die eigene Führungsriege in der Sache zu vereinen. Nach dem Motto: Vergesst nicht, wofür ihr euren Dienst tut.
Hoffnung auf eine Zukunft ohne Gewalt und Hass
Ist die Kirche, ist das Land also bereit für eine friedliche Zukunft? Besuch im „Good Shepherd Peace Center“ von Kit, ein bis zwei Autostunden außerhalb der Hauptstadt. Das Bündnis „Solidarity with South Sudan“, ein Zusammenschluss katholischer Ordensgemeinschaften, betreibt es – dieses Wochenende ist eine Jugendgruppe einquartiert. Sie gehören zu einer christlichen Pfingstgemeinde, es wird ausgelassen gesungen, getanzt und gelacht – wie es eben sein soll unter jungen Menschen, die das Leben vor sich haben. Wächst vielleicht doch eines Tages eine andere Generation heran? Eine, die genug hat vom ewigen Kreislauf der Gewalt und des Hasses? Es kann schon sein, dass im Herbst tatsächlich Wahlen stattfinden werden und die Pessimisten Recht behalten. Vielleicht explodiert die Gewalt wieder und das Chaos setzt sich fort. Dann wird man sich fragen müssen, warum all die Friedensappelle ungehört verhallt sind. Für den Moment jedoch ist es anders: Die Worte sind ausgesprochen, die Botschaft ist in der Welt. Jetzt müsste man sie nur noch wahr machen.