Unterricht für die Straßenkinder an der Commonwealth Avenue in Metro Manila.Schwester Kate O'Neill hat kaum einen Fuß in die heruntergekommene Markthalle gesetzt, da laufen die Kinder auf sie zu. „Sister, sister“, schreien sie durcheinander, halten sich an ihr fest und umarmen sie stürmisch. Wann immer es ihre Zeit erlaubt, begleitet die 50 Jahre alte Australierin die beiden Sozialarbeiter Jorge Villegas und Edwin Signo zu den Kindern auf die Straßen der Großstadtregion Metro Manila. Die beiden gehören zum Team des katholischen Kuya Centers. Schwester Kate ist seit gut einem Jahr die Direktorin.
Immer mittwochs sind sie am großen Markt an der Commonwealth Avenue nahe dem Armenviertel Kasanduan Creek unterwegs. Auch heute ist ihr Treffpunkt an den Billiardtischen gleich am Eingang der Halle. Die Kinder haben schon sehnsüchtig
auf sie gewartet, zusammengekauert auf Kartons unter den großen Tischen oder in einer der dunklen Ecken. Gemeinsam gehen sie auf eine ruhige Seite des überdachten Marktes, dorthin wo die metallenen Verkaufstische heute schon leergeräumt sind: Schwere Haken mit Fleischresten hängen von der Decke, unter den Tischen haben sich Pfützen mit undefinierbarer Flüssigkeit gebildet, in den Gängen liegen Essensreste und Müll - es riecht erbärmlich. Hier findet für die Straßenkinder der Gegend einmal in der Woche Unterricht statt. Jorge teilt Stifte und Papier aus, jeder soll erst einmal seinen Namen schreiben, dann gibt es einen kleinen Wissenstest. Einige der Kinder sind konzentriert bei der Arbeit, viele von ihnen können nicht einmal eine kurze Weile stillsitzen – nur die Aussicht auf ein anschließendes warmes Mittagessen in einer nahen Imbissbude lässt sie am Unterricht teilnehmen.
"Nur wenige hatten je ein richtiges Zuhause"
Schwester Kate kennt die Schicksale der meisten Kinder. „Nur wenige von ihnen hatten je ein richtiges Zuhause. Viele wurden irgendwo in einem Verschlag rund um den Markt geboren, manche wurden als Babys ausgesetzt, andere sind vor Gewalt oder Missbrauch von ihren Familien davongelaufen.“Mit seinem sogenannten Straßenprogramm will das Team des Kuya-Centers Kindern, die auf der Straße leben, die Möglichkeit bieten, wenigstens einmal die Woche so etwas wie Normalität zu erfahren. Sie bringen den Jungen und Mädchen lesen und schreiben bei, schenken ihnen Aufmerksamkeit und kümmern sich so gut es geht um ihre Anliegen.
Nach dem Unterricht gibt es in einer nahen Imbissbude ein warmes Essen.
Außerdem können die Kinder auch dauerhaft im Kuya-Center wohnen. Gegründet wurde die Einrichtung 1991. Traditionell werden im Kuya-Wohnheim nur Jungen aufgenommen. Mädchen vermittelt Schwester Kate in Partner-Einrichtungen. Einer der Jungen, die gerade in der vierstöckigen Zentrale des Kuya-Centers in der Diözese Cubao ein neues Zuhause gefunden haben, ist der 14-jährige John. Eine Schule hat er zuvor nie besucht. Um seine Mutter und die Geschwister, die in einer notdürftig zusammengehaltenen Wellblechhütte im nahen Kasanduan Creek wohnen, ein wenig zu unterstützen, zog er nächtelang um die Häuser, bettelte, putzte Schuhe oder verkaufte Briefumschläge. Wie viele seiner Freunde schnüffelte auch er betäubenden Klebstoff, um den Hunger zu vertreiben. Bis er schließlich vor einigen Monaten hier am Markt Schwester Kate und die Sozialarbeiter der Einrichtung traf. John ließ sich von der Australierin überzeugen, es mit dem Wohnheim des Kuya-Centers zu versuchen.
"Die Türen sind immer offen"
In der Zentrale des Kuya-Centers kümmert sich ein zwölfköpfiges Team aus Erziehern und Sozialarbeitern um die Jungen.„Es ist uns wichtig, dass die Kinder freiwillig zu uns kommen“, sagt sie. „Sie müssen bereit sein, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Nur dann können sie sich selbst helfen. Alles andere macht keinen Sinn.“ Die Direktorin legt großen Wert darauf, dass die Kinder das Kuya-Center – in dem sich eine Mannschaft von zwölf Sozialpädagogen, Erziehern, Psychologen und Heimeltern um sie kümmern – jederzeit wieder verlassen können. „Bei uns wird niemand eingesperrt“, erklärt sie. „Die Türen sind immer offen.“
Schwester Kate weiß, dass das neue Leben für die Kinder nicht immer einfach ist. Viele von ihnen schlafen hier das erste Mal überhaupt auf einer richtigen Matratze, benutzen zum ersten Mal eine Zahnbürste oder duschen zum ersten Mal unter fließendem Wasser. Allerdings müssen sie sich hier auch zum ersten Mal in ihremLeben an Regeln halten, müssen sich einem strukturierten Tagesablauf anpassen. „Es gibt immer einige, die damit nicht klarkommen, die ihre Freunde und ihre kleinen Banden im Markt zu sehr vermissen. Man muss sich das einmal vorstellen: Viele von ihnen leben schon in der dritten Generation auf der Straße – wie zuvor schon ihre Großeltern, die Eltern und jetzt sie selbst.“
Schwester Kate kam vor 16 Jahren auf die Philippinen, seit 13 Jahren arbeitet sie im Kuya Center, im Oktober vergangenen Jahres übernahm sie dessen Leitung. Natürlich habe sie mit den Jungs nicht nur Rückschläge erlebt, sagt sie. Die Erfolgsgeschichten sind es, die ihrer Arbeit einen Sinn geben. Immer wieder schaffen es Jungen, die Schule abzuschließen und anschließend eine solide Arbeitsstelle zu bekommen. Einer ihrer Schützlinge arbeite jetzt als Ingenieur in Singapur und ein anderer habe gerade eine Ausbildung als Koch angefangen, berichtet Schwester Kate mit einem Lächeln. Ihr größter Stolz sind zwei einstige Straßenkinder, die jetzt als Ärzte in Manila arbeiten. Regelmäßig schauen sie im Kuya-Center vorbei, um die jetzigen Kinder kostenlos zu behandeln.
Keine Hilfe vom Staat
Auch der 14-jährige John will es schaffen. „Ich bin glücklich hier“, erzählt er. Im Kuya-Center hat er neue Freunde gefunden, mit denen er sich ein Zimmer teilt. „Das erste Mal in meinem Leben schlafe ich gut und endlich lerne ich lesen und schreiben.“ Er wolle sich anstrengen und einen guten Schulabschluss machen, um in einem ordentlichen Beruf Geld für seine Familie zu verdienen. „Am liebsten als Seemann“, sagt er. „Die Straßenkinder haben Träume wie alle anderen Kinder auf der Welt auch“, sagt Schwester Kate. „Sie wollen Polizist werden, Lehrer oder Arzt. Sie träumen von einem ganz normalen Leben.“ Doch sie weiß auch, dass ein langer Weg vor John und den anderen Kindern liegt. John (links) ist glücklich im neuen Zuhause: mit seinen neuen Freunden teilt er sich ein Schlafzimmer.
„Wer es bei uns nicht schafft und zurück auf der Straße landet, für den gibt es oft keine Hoffnung“, sagt sie. Von Regierungsseite werde so gut wie keine Hilfe angeboten, die Kinder seien auf sich alleine gestellt. „Die Lebenserwartungen der Jungen und Mädchen sind entsprechend gering“, erzählt Schwester Kate.„Straßenkinder sterben oft jung an Krankheiten wie Tuberkulose oder Lungenentzündung. Nicht wenige werden auch wegen ihrer Schnüffelei, die sie träge und apathisch macht, von Autos überfahren. Andere landen wegen kleinkrimineller Vergehen im Gefängnis.“
Auch an diesem Mittwoch, auf dem Markt an der Commonwealth Avenue, trifft Schwester Kate einen Jungen namens Paul wieder, der das Wohnheim vor drei Wochen nach nur ein paar Tagen verlassen hat.Verlegen nimmt er Schwester Kates Hand. So richtig in die Augen schauen kann er ihr immer noch nicht. Schwester Kate streicht ihm sanft übers Haar und flüstert ihm etwas zu. „Paul ist einfach noch nicht soweit. Er konnte sich nicht von seinem gewohnten sozialen Umfeld lösen.Aber die Kinder wissen, dass sie bei uns immer eine zweite Chance bekommen – wenn sie nur wollen.“