HINTER DER TANKSTELLE der Firma „Yara Service“ türmt sich das Inferno auf. Dichte schwarze Rauchwolken verdunkeln den Himmel. Aufgeregt laufen die Menschen durcheinander über die Straße. Mit schriller Sirene rast ein roter Feuerwehrwagen heran und hält neben der Tankstelle. Zum eigentlichen Brandherd führen nur ein paar enge Fußwege. Verzweifelt ziehen die Feuerwehrleute den Schlauch aus dem Wagen heraus.
Einige Jugendliche packen mit an – das Wasser löscht immerhin einige Bretterbuden und ein brennendes Auto. Aber jeder scheint zu ahnen, dass der Kampf verloren gehen wird. Einige Kühe brüllen angsterfüllt. Am Ende werden viele Tiere und zwei Menschen – ein Kind und ein älterer Mann – ums Leben gekommen sein. Ein Reporter aus Mali hat diese Szenerie Ende April 2020 mit seiner Handy-Kamera festgehalten.
Was hier verbrennt, ist das Flüchtlingslager von Faladié in Bamako, Mali. Geschätzt 1000 Menschen leben hier. Man nennt sie „Internally Displaced People“ – zu Deutsch: Binnenflüchtlinge. Wie mehr als 200.000 andere Menschen aus Mali sind sie geflohen vor der Krise im eigenen Land. Zeit für einen Rückblick.
Der Müll und die Menschen – Januar 2020
Hama Diallo (rechts) spricht mit neu angekommenen Frauen Foto: Jörg BöthlingObwohl es noch ziemlich genau drei Monate dauern wird, bis das Flüchtlingslager in Flammen aufgeht, stehen jetzt schon die Rauchwolken am Himmel. Doch das hat einen anderen Grund. „Als wir hierher kamen, war das Gelände leer“, sagt Hama Diallo. „Die Stadtverwaltung hat uns den Platz zugewiesen.“ Der Mann im blauen Umhang zieht sich den Mundschutz ins Gesicht. Er trägt die Stoffmaske (noch) nicht aus Schutz vor dem Coronavirus, sondern wegen der stickigen Luft. Auf der brachliegenden Fläche im 6. Bezirk wohnte niemand, denn sie dient vor allem als Müllkippe. Auch jetzt noch fahren Lastwägen an den Rand des Müllberges und laden ab, was sich in der wachsenden Hauptstadt Bamako angesammelt hat:
Plastikfolien, Eisenstangen, Getränkedosen, Essensreste. Und gleich daneben wächst die Siedlung der Flüchtlinge. Manche leben seit Ausbruch der Mali-Krise 2012/2013 hier. Andere sind ganz neu. „Es werden jeden Tag mehr“, berichtet Hama Diallo, der zum Volk der Peulh gehört. „Wir bauen uns die Behausungen mit dem, was wir in der Hand haben.“ Doch das reicht selten, weil die meisten Flüchtlinge sowieso fast mit leeren Händen hier eintreffen. Also behelfen sie sich mit allem, was sie finden können: im Müll, auf Baustellen irgendwo in der Stadt, am Straßenrand.
„Vor allem in der Regenzeit ist es schwierig“, sagt Herr Diallo. „Das Wasser ist dann überall.“ Trinkwasser dagegen ist kostbar – sie müssen es in Kanistern kaufen, Händler bringen es mit Eselskarren, die Frauen schleppen es weiter.
Der Wind weht jetzt einen beißenden Rauch über den Hügel. Ein hustendes Mädchen stapft vorbei. Barfuß. Das Mädchen trägt eine Kehrschaufel in der Hand. „Sie verbrennen den Müll“, erklärt Hama Diallo. „Und die Asche nehmen sie zum Pflanzen her.“
Wer Glück hatte und seine Tiere mitbringen konnte, kann sie auf dem Viehmarkt verkaufen. Der Markt liegt gleich nebenan – genauer gesagt: Der Markt war schon vor den Flüchtlingen da, ein wichtiger Handelsplatz für die Nomaden. Irgendwann haben die ersten Peulh-Familien entschieden: Wir bleiben lieber hier. Zu Hause wird es uns zu gefährlich.
Die Flüchtlinge leben, wo sich Abfälle der Hauptstadt stapeln Foto: Jörg BöthlingErst gestern hat Hama Diallo einen Anruf aus der Heimatregion Mopti bekommen. Ein Verwandter war am Telefon. Er erzählte davon, dass Kühe und Ziegen geraubt worden seien. Und es hat Tote gegeben. „Das sind die Nachrichten, die wir haben.“ Mehr möchte Hama Diallo heute nicht sagen.
Die blutigen Nächte – Juni 2019
Er möchte sich entschuldigen. Dafür, dass die Bilder so grausam sind. Das schreibt Abbé Germain Arama in einer E-Mail, die er am 16. Juni 2019 von Mali aus nach Deutschland schickt. Fünf Bilder fügt er hinzu. Sie zeigen entsetzliche Dinge. Die Körper toter Menschen. Verbrannt, verkohlt, ermordet. Wenige Tage sind vergangen, seit das Dorf Sobane-Da in der Region Mopti angegriffen und überfallen wurde. Germain Arama ist Priester. Er schreibt: „Die Bevölkerung im Dorf ist zu hundert Prozent katholisch.“ Sie gehören zum Volk der Dogon, die traditionell als Ackerbauern hier leben. Die Angreifer sollen Angehörige der Peulh gewesen sein – das Volk der Nomaden und Viehhirten.
Überlebende beschreiben, was geschehen ist. Die Organisation „Human Rights Watch“ hat einige dieser Augenzeugenberichte festgehalten. „Ich trank gerade einen Tee, als die Motorräder kamen“, wird ein 32 Jahre alter Mann zitiert. „Ich sah zwölf Angreifer, sie saßen jeweils zu zweit auf sechs Motorrädern.“ Die Menschen versteckten sich in ihren Häusern, doch sie wurden umzingelt. Die Angreifer legten Feuer. Wer in Panik aus dem Haus lief, wurde erschossen. Der Angriff dauerte mehrere Stunden, bis spät in die Nacht. „Ich hörte Menschen schreien, ich roch das Feuer, ich hörte Schüsse und die ‚Allahu Akbar’-Rufe“, sagt der Mann. Am Ende wurden 35 Tote gezählt.
Was Abbé Germain Arama überrascht hat: Die Kirche des Dorfes blieb verschont, ebenso einige Häuser mit Kreuzen an den Wänden. Er vermutet deshalb, dass religiöser Hass nicht das Tatmotiv gewesen sein kann. Und tatsächlich fügt sich der Überfall auf Sobane-Da ein in eine ganze Serie von Gewalttaten, die sich in der Zentralregion von Mali seit einigen Jahren abspielen.
Mit dem Aufstieg der Islamisten weiter im Norden haben sich auch die jahrhundertealten Konflikte zwischen umherziehenden Nomaden der Peulh und den sesshaften Bauern der Dogon verschärft. Es gibt Streit um knappes Land in Zeiten des Klimawandels und wachsender Bevölkerung.
Mit den Islamisten sind plötzlich viel mehr tödliche Waffen im Umlauf als je zuvor. Vorgeblich zum Schutz vor den Islamisten haben sich in vielen Landstrichen bewaffnete Bürgermilizen gegründet. Diese wiederum werden gerne von islamistischen Gruppen angestachelt und ausgenutzt – ein Wechselspiel aus Gewalt und Gegengewalt kam in Gang.
So wird auch das Massaker im christlichen Dorf Sobane-Da von manchen Beobachtern als Racheakt gedeutet. Wenige Monate zuvor gab es ein ähnliches Ereignis im Dorf Ogossagou. Doch damals waren die Rollen vertauscht: Peulh wurden angegriffen, die Täter trugen Kleidung und Waffen der berüchtigten „Dozo“-Miliz vom Volk der Dogon. Laut „Human Rights Watch“ starben in Ogossagou mehr als 150 Menschen, darunter 40 Kinder. 90 Prozent des Dorfes sind verbrannt.Rund um einen Viehmarkt in den Außenbezirken von Bamako haben sich die Flüchtlinge angesammelt Foto: Jörg Böthling
Leben und Überleben – Januar 2020
„Ich habe nicht viele Nachrichten von daheim“, sagt Biba Guindo. „Zurzeit scheint es ruhig zu sein.“ Sie lebt nun seit einigen Monaten in Faladié, dem Flüchtlingslager in Bamako. „Wir haben vier oder fünf kleine Hütten gebaut“, sagt Frau Guindo. „40 oder 50 Leute wohnen da zusammen.“
Die Not ist groß: Mittendrin in dem ganzen Chaos hat sich ein Junge ein Versteck gesucht. Er heißt Ousmane und ist vielleicht sechs, vielleicht sieben Jahre alt. Er blickt aus dem Verschlag aus Plastik, Blech und Brettern heraus. In der Hand hält er etwas, das man nicht sofort erkennt. Der Junge beißt darauf als wäre es ein Stück Brot. Es ist aber ein Stück Plastikschlauch, auf dem er vor Hunger kaut.
Biba Guindo stammt aus dem Volk der Do gon. Ob Peulh oder Dogon – im Flüchtlingslager leben beide nebeneinander. Sie beäugen sich zwar manchmal misstrauisch, aber es geht. Biba Guindo blickt auf, es wird langsam Abend. „Unsere Männer suchen tagsüber Arbeit“, sagt sie. „Auf Feldern am Stadtrand zum Beispiel.“ Jetzt kommen sie mit Motorradtaxis wieder heim.
Auch die Frauen arbeiten hart – die einen backen und kochen am Straßenrand, eine Nachbarin verkauft hinter einem Holzverschlag Limonade und Bier. „Naja, wir schlagen uns eben so durch“, sagt Biba Guindo und lacht.
Es stimmt. Lachen ist nicht verboten, schon gar nicht im Flüchtlingslager. Ganz in der Nähe kann man Klänge der Freude hören: Die Nachbarn trommeln, johlen und singen – auf einer kleinen staubigen Fläche zwischen all den Hütten und Behausungen wird getanzt. Weil heute Hochzeit ist. Und das muss gefeiert werden.
So ist das eben auch in Zeiten der Not: Es wird gestorben, aber auch gelebt.
Das Ende kann ein Anfang sein – Herbst 2020
Der brennende Müll, den die Menschen anzündeten, war der Grund für den großen Brand von Faladié. Das vermuten zumindest die meisten. Ende April ist Trockenzeit, der heiße Wüstenwind entfachte die Flammen in wenigen Minuten und fast das gesamte Flüchtlingslager brannte ab. Doch es dauerte nur wenige Tage, bis die Siedlung wieder aufgebaut war. Wo hätten die Menschen auch sonst hingehen sollen? Jetzt leben sie wieder am gleichen Ort wie vorher – Peulh und Dogon, andernorts verfeindet, aber in der Not im selben Boot.