Die MS Dering legt in Hutbay an. Das Meer ist mild und gütig in dieser Nacht. Die alte MS Dering schaukelt auf sanften Wogen. Rund steht der Mond am Himmel, die Milchstraße ist so klar erkennbar wie das nur an Punkten wie hier möglich ist: mitten im Nirgendwo, auf offenem Meer zwischen Port Blair, der Hauptstadt der Andamanen, und Hutbay, dem Hafen von Klein-Andaman. An Deck des Passagierboots haben die Reisenden Tücher ausgelegt und sich zum Schlafen ausgestreckt. Acht bis zwölf Stunden dauert die Fahrt, je nach Wellengang. Mit dem ersten Tageslicht werden die Körper, die am Boden zusammengekauert liegen, unruhig. Frauenfinger streichen Kinderhaare glatt, ein Mann putzt sich mit dem Zeigefinger provisorisch die Zähne, Kekse und kleine Gläser mit Chai, dem milchigwürzigen indischen Tee, machen die Runde. Wieder einmal hat die MS Dering die lange Fahrt hinter sich gebracht, hat sich durch dieses Meer hindurchgemogelt, dem die Menschen nicht mehr trauen.
Ein Jahr ist es her, dass dieses Meer sie blindlings überfallen hat, „die Menschen gegessen hat“, wie die ursprünglichen Einwohner der Inselgruppe es nennen. Unmöglich, das zu vergessen. Festland kommt in Sicht. Der Strand von Hutbay liegt hell im Morgenlicht. Die Fischer haben ihren Fang eingeholt und schauen neugierig zu, als die Dering anlegt und ihre Passagiere ungeduldig von Bord drängen. Taschen, Eimer, mit Kordeln verschnürte Pakete, Körbe, Plastik- und Basttüten und Kartons – kaum eine Hand, ein Arm, ein Rücken ist unbepackt.
Das Leben ist zurück
Wellblechhütten säumen eine Straße ins Inselinnere.Die kleinen Krämerläden, die vor dem Tsunami die Straßen säumten, sind wieder an Ort und Stelle. Und nahezu alles, was man in den Läden kaufen kann, kommt vom indischen Festland. Denn statt Coca-Cola und Co bringt Klein-Andaman ganz andere Schätze hervor: Öl- und Kokospalmen und natürlich Fische, Fische, Fische. Schnell vom Bord und nach Hause! Nur, dass es für viele Einwohner der Insel ein Zuhause, wie sie es zuvor hatten, nicht mehr gibt.
Für die, die der Tsunami getroffen hat, heißt die neue Heimstatt jetzt „temporary shelter“, also „vorrübergehender Zufluchtsort“. Pushpa Sarkar, 25, lebt in einer dieser Hütten auf einem kleinen Hügel. Keine Flutwelle, mit welcher Kraft auch immer, könnte bis dorthin gelangen. Für Pushpa ist das die Gewissheit, die sie nachts ruhig schlafen lässt. Die junge Frau bewohnt mit ihrem Mann, ihrer dreijährigen Tochter und ihrem kranken Vater die Blechhütte 121. „Das hier ist nicht mehr unser Zuhause. Das ist unser Dach über dem Kopf“, sagt Pushpa. Ihr Mann Shivshankar, 30, der vor kurzem wieder Arbeit als Holzfäller gefunden hat, klingt optimistischer. „Es ist doch gut hier. Denk dran, wie es für uns vor ein paar Monaten ausgesehen hat!”
"Dann kam das Wasser"
Bei beiden sitzt der Horror tief. Pushpa erzählt: „Es war ganz früh am Morgen und ich war gerade dabei, für meine Familie Tee zu kochen, als die Erde auf einmal wie verrückt bebte. Wir packten unsere Tochter und rannten davon. So wie wir waren. Barfuß, ohne alles.“ Pushpas Mann fährt fort: „Dann kam das Wasser. Wir hatten Glück, wir schafften es auf einen Hügel, viele wurden weggerissen. Bei uns war nur das Haus weg.“
Zwei Jahre lang sollen Pushpa und ihre Familie in ihrem neuen Domizil bleiben. Dann dürfen die Tsunami-Opfer umziehen, in richtige Häuser. Wenn es nach Pushpa geht, wird ihre Familie mit Sicherheit nicht mehr in Strandnähe wohnen. „Alles, aber nie mehr in die Nähe des Meeres!“ Nicht alle sind so vorsichtig wie Pushpa. Entlang der Küstenstraße hat ein Friseur den Betrieb aufgenommen. „Ich hatte schon vorher meinen Laden hier. Ich habe ihn einfach wieder aufgebaut, ich will mich nicht vertreiben lassen“, erzählt er. Ein Kokosnuss-Verkäufer öffnet im Laden nebenan mit schnellen Hieben eine Frucht, steckt einen Strohhalm hinein und reicht sie einem Kunden. Zwei Hütten weiter wirbt ein Telefonladen mit internationalen Verbindungen und Internetanschluss.
Mit jeder Naturkatastrophe kommen Ungerechtigkeiten
„Klein-Indien“ ist wieder aufgetaucht, ganz so wie das Festland seinen „Smaragdgürtel im Ozean“ gerne sieht: ein Sammelsurium all der Dinge, die den Subkontinent auszeichnen, nur im Kleinformat. Die besten Geschäfte macht derzeit vielleicht der Fahrradhändler, der neben erfindungsreich zusammengebastelten Gebrauchträdern auch neue Ware im Angebot hat: „Jeder will ein Fahrrad“, erzählt er: „Die ganze Insel legt jetzt Wert auf Geschwindigkeit.“
In den Wochen nach dem Seebeben stellt die Trinkwasserversorgung die größte Schwierigkeit dar. Aber mit jeder Naturkatastrophe kommen auch Ungerechtigkeiten. „Zunächst einmal die, die in keines Menschen Hand liegen. Wer überlebt, wer nicht. Wer verliert Angehörige, wer bleibt verschont“, sagt Schwester Agnes Babasherry, 43. „Und dann kommt die Hilfe von außen, zum Glück. Aber dass es dabei zu weiterem Wirrwarr kommt, ist auch klar.” Die Ordensfrau der St. Josephschwestern von Chambéry ist erst vor einigen Wochen vom Festland hier auf die Insel gekommen, um den Menschen bei der Bewältigung ihres Traumas zu helfen. Sie geht von Siedlung zu Siedlung, von Hütte zu Hütte und versucht, ins Gespräch zu kommen.
„Der absolute Ausnahmezustand, als wir nur Essen, Kleider und Dinge des täglichen Bedarfs verteilt haben, ist nun vorbei. Wir müssen jetzt längerfristig denken, die Leute aus der Reserve locken und sie dazu bringen, ihr Herz zu öffnen. Die Wenigsten können über das, was sie erlebt haben, sprechen. Aber wenn du dir genügend Zeit nimmst, dich hinsetzt und wirklich zuhörst, dann fangen sie irgendwann an. Manche nach einer Woche, andere vielleicht in ein paar Monaten“, sagt sie. Wie es den Menschen geht, diese Frage steht nun für die Kirche auf Klein-Andaman im Vordergrund. Mittlerweile hat sie als Nichtregierungsorganisation (NGO) zu einer guten Zusammenarbeit mit der Regierung gefunden. „In einem von Hindus dominierten Staat, der hinter der Hilfe aus Nächstenliebe sofort einen Bekehrungsversuch vermutet, keine Selbstverständlichkeit“, betont die Ordensfrau.
Heute ist Sr. Agnes auf dem Weg nach Balu Level, einem verlorenen Dörfchen im Inselinneren. In den einfachen Lehmhütten wohnen Menschen, die als „indirekt vom Tsunami Betroffene“ klassifiziert worden sind. Sie haben durch das Seebeben nicht Angehörige und Besitz, sondern den Arbeitsplatz verloren und gehören daher zu keiner der Gruppen, die von der Regierung unterstützt wird. „Ich habe seit vier Monaten keine Gehaltszahlung mehr bekommen“, erzählt ein Mann, der seine Familie durch seine Arbeit in der Palmölherstellung ernährt hat. „Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Man vertröstet uns Monat für Monat mit der Auskunft, dass sich nach dem Tsunami erst alles wieder einspielen muss, aber mir nützt das nichts. Ich habe keinen Reis für meine Kinder!“
Die Erfolge der Ehemaligen
Im ersten Morgenlicht laufen Frauen den Fischern entgegen, um den Fang in die Stadt zu tragen.
Die Bewohner von Balu Level sind nicht seit jeher dort. In den 60er Jahren bot Delhi einer größeren Zahl von Menschen aus den Armenhäusern Indiens wie Bengalen, Orissa, Bihar oder Andhra Pradesh die Chance, auf dem Eiland im indischen Ozean ein neues Leben anzufangen. Wer konnte, ergriff diesen Strohhalm. Land gab die Regierung diesen früher Landlosen allerdings nicht, denn das hätte einen Bruch im Kastensystem dargestellt und wäre undenkbar gewesen. In der Palmölindustrie sollten sie helfen, als billige, anspruchslose Arbeitskräfte.
„Und jetzt wissen wir nicht, ob man uns noch braucht. Vielleicht schicken sie uns wieder weg“, befürchtet auch Seroj, 22. Die junge Frau hat sich etwas einfallen lassen: „Wir haben eine Schweinezucht mit Hilfe von Schwester Agnes begonnen. Damit wollen wir uns wirtschaftlich auf eigene Füße stellen“, sagt sie. Noch ist die Schweinezucht allein Frauensache im Dorf. Seroj hat die übrigen Bewohnerinnen dafür begeistert, pro Monat hundert Rupien – umgerechnet zwei Euro – zu sammeln und dafür Schweine und Futter zu kaufen.
Ein paar Meter weiter zieht ein Mädchen einen Wassereimer aus einem Brunnen. „Um die Wasserversorgung haben wir uns in diesem Dorf gekümmert, denn da hätte die Regierung nichts getan”, erzählt die Ordensfrau. Zu einer sinnvollen Zusammenarbeit zu kommen, war nach der Katastrophe eine der größten Herausforderungen für Kirchen, NGOs und den indischen Staat. Zunächst habe die Regierung vorsichtig auf die Idee einer Zusammenarbeit mit der Kirche reagiert, so Pater George Selvaraj, Koordinator der Tsunami-Hilfe der Katholischen Kirche auf den Andamanen und Nikobaren, „Da waren wir hilflos. Die ganze Welt hatte uns unterstützt, damit wir den Menschen helfen, und wir durften nichts tun. Aber dann hat die Regierung ihre Einschätzung geändert und mittlerweile funktioniert es“, meint er.
Riesige Hilfsbereitschaft aus aller Welt
Das gilt nicht für alle. Andere ausländische Hilfsorganisationen, die mit den Gegebenheiten vor Ort nicht vertraut waren, stießen auf Schwierigkeiten: „Eine Organisation”, erzählt eine Frau, „hat uns gesagt, sie könnten uns einen kleinen Laden aufbauen. Ich habe gleich zugeschlagen“, erzählt sie. „Aber kaum hatte ich den Laden aufgebaut und alles darin, kommt die Regierung und sagt mir ,Wir müssen dein Geschäft einreißen, weil das Land, auf dem es steht, nicht dir gehört.‘ Da hat sich die Organisation nicht informiert!“
„Dass die Leute hier das Seebeben langsam überwinden, ist der riesigen Hilfsbereitschaft aus aller Welt zu verdanken“, sagt Schwester Agnes, als sie das Dorf Balu Level hinter sich lässt. „Wenn dir Menschen aus einem Land, das weiter weg ist, als du dir vorstellen kannst, einen Brunnen schenken, so wirst du das nie vergessen. Das versöhnt dich wieder mit so vielem.
Das hinterlässt einen unermesslichen Schatz: das Wissen, das andere dir im Unglück zur Seite stehen. Und das Unvorstellbare: Das sind Menschen, die dich gar nicht persönlich kennen.”
Der Abend ist hereingebrochen. Die MS Dering liegt im Hafen bereit. Schwester Agnes wird weder heute Nacht an Bord sein noch in den kommenden Wochen. Nun beginnt ihre Aufgabe hier. Sie wird junge Leute ausbilden, die den Opfern dabei helfen sollen, in ein normales Leben zurückzukehren. Eine Arbeitsstelle zu finden wie Pushpas Mann. Ein Unternehmen zu gründen wie Seroj. Worte zu finden für den schlimmsten Tag ihres Lebens, den 26. Dezember2004.