Wenn der siebenjährige Tibebu mit seinen Mitschülern über den Schulhof läuft, dann werden keine Fußbälle durch die Luft geschossen und es wird auch kein Fangen gespielt. Auf dem grauen Platz vor der St. Raphael Schule im äthiopischen Gonder klappert es nur. Es ist das Geräusch von etwa einem Dutzend weißer Blindenstöcke, die über den Betonboden schwingen. Für die jungen Schüler ist es noch ungewohnt, sich ganz alleine, nur mit Gehhilfe, fortzubewegen. Manche tasten sich nur langsam voran, einen kleinen Schritt nach dem anderen. Manche heben den Stock noch zu hoch, wenn sie ihn von links nach rechts und wieder zurück bewegen. Sie laufen sich dann aus Versehen gegenseitig vor die Füße oder stoßen gegen die kleine Stufe vor dem Blumenbeet, weil ihr Stock sie nicht rechtzeitig vor dem Hindernis gewarnt hat. Tibebu hat noch einen kleinen Vorteil gegenüber seinen Freunden, er kann noch schemenhaft Umrisse erkennen. Der Blindenstock hilft ihm trotzdem, sich sicherer fortzubewegen.
Der siebenjährige Tibebu übt mit Sr. Yeshi Yitna lesen. Wie ist es wohl, seine Umgebung nicht sehen zu können? Ob von Geburt an oder ausgelöst durch eine Krankheit – wer blind ist, muss sich auf seine anderen Sinne verlassen können, andere Fähigkeiten entwickeln. Und er ist davon abhängig, wie sehr eine Gesellschaft bereit ist, auch Nicht-Sehenden einen Platz zu geben. In einem Land wie Äthiopien, in dem Menschen mit Behinderung oft diskriminiert und von der eigenen Familie zu Hause versteckt werden, ist es eine besondere Herausforderung. Die St. Raphael Schule mit angeschlossenem Internat ist eine Anlaufstelle für all jene, die aufgrund ihrer Blindheit nicht ohne weiteres auf eine staatliche Schule gehen können.
"Blind sein, ist ein Fluch Gottes, heißt es in unserer Gesellschaft", erklärt die katholische Ordensschwester und Schulleiterin Tsige Habtemariam. "Diese Meinung ist noch weit verbreitet, aber wir sehen auch Verbesserungen für blinde Menschen." Mehr Eltern würden ihre Kinder mittlerweile auf Schulen für Blinde schicken, auch wenn es vor allem die Jungen sind, die gefördert würden. Und so sind auch von den insgesamt 73 Schülern der St. Raphael Schule nur etwa ein Drittel weiblich.
In einem kleinen Raum des Schulgebäudes sitzen zwei junge Frauen an einem Holztisch und lesen in einem Ringheft. Konzentriert fahren sie mit ihren Fingern über die weißen Seiten mit Blindenschrift. Eine von ihnen, die 18-jährige Amarech Fekad, wohnt auf dem Schulgelände seit sie fünf Jahre alt ist. Ihre Eltern brachten sie hierher, nachdem sie erblindet war. "Ich verlor mein Augenlicht durch eine Krankheit“, sagt Fekad. Welche das war, weiß sie nicht mehr.
"Die Zeit, in der ich mein Augenlicht verlor, war schrecklich"
Amarech Fekad erblindete im Alter von fünf Jahren. Sie will einmal Jura studieren. Dafür erinnert sie sich noch genau daran, wie manche Orte aussahen, an Flüsse, an die unterschiedlichen Farben und das Vieh, das sie als Kind hüten musste. Sie beschreibt die Zeit, in der sie ihr Augenlicht verlor, als "schrecklich und traurig". Aber sie hat gelernt, auch als Blinde ihr Leben so gut es geht zu meistern. Gerade liest Fekad etwas über die Geschichte des Landes. Überhaupt interessiert sie sich für alles, was mit Politik und Kultur zu tun hat. "Äthiopien ist ein sehr traditionelles Land, religiös und kulturell sehr vielfältig", sagt sie. Es gäbe aber auch Probleme, gerade unter den verschiedenen Ethnien. Den jüngsten politischen Umbruch hat sie mit Spannung mitverfolgt.
"Es ist wichtig, sich für seine Rechte einzusetzen, aber eine echte Demokratie zu schaffen, wird nicht leicht werden", sagt sie. Fekad saugt alles auf, was die Nachrichten berichten. "Ich liebe es, neue Informationen aus den Medien zu erfahren", sagt sie. Ihr Ziel ist es, Jura zu studieren und Anwältin zu werden. Sie hätte sich auch für Geographie, Geschichte, Sprach- oder Sozialwissenschaften entscheiden können. Nur Medizin und Ingenieurswesen dürfe man als Blinder nicht studieren, erklärt die junge Frau. Der Unterrichtsinhalt der Blindenschule ist indes ähnlich wie auf anderen Schulen. Nur das Lesen und Schreiben ist eben eine Besonderheit. Das Braille-Alphabet, die weltweit gängigste Blindenschrift, bildet die Grundlage. "Erst lernen wir die amharische Blindenschrift, dann die englische", sagt der 19-jährige Marye Kawssai. Auch er möchte einmal Jura studieren, um die Menschenrechtssituation im Land zu verbessern. Ob er sich selbst diskriminiert fühlt? "Eigentlich nicht", sagt er. Zumindest nicht hier an der Schule, wo sie alle gleich seien.
Viele Erblindungen wären vermeidbar gewesen
Fragt man Amarech Fekad, ob ihr irgendetwas aufgrund ihrer Blindheit fehle, dann sind es eher kleine Wünsche, die sie hat: Sie würde gerne Filme anschauen und Facebook nutzen können. Außerdem gebe es nicht alle Bücher, die sie interessieren, auch in Blindenschrift. Und dann fällt ihr doch noch etwas ein: "Einmal im Leben würde ich gerne Lalibela sehen", sagt sie. Die berühmten Felsenkirchen aus dem 12. Jahrhundert gehören zu den größten Heiligtümern der orthodoxen Christen in Äthiopien.
Viele der Schüler kommen schon in jungen Jahren an die Schule der katholischen Schwestern. Sie sind die meiste Zeit von ihren Eltern getrennt, manchmal haben sie auch keine mehr. Sie müssen lernen, Selbstvertrauen zu entwickeln. "Das ist nicht immer leicht", sagt Schulleiterin Schwester. Tsige Habtemariam. Ein Junge habe anfangs nicht essen wollen, sprechen tue er bis heute nicht. Doch hört man den älteren Schülern zu, erfährt man, dass sie die Schule als große Chance wahrnehmen. Neben dem Unterricht und dem Austausch haben sie auch eine Wohnmöglichkeit und genug zu essen.
Pause vom Unterricht: Die Lehrerin spielt mit den Kindern ein einfaches Wurfspiel.
"Viele unserer Schüler kommen vom Land, aus sehr ärmlichen Verhältnissen", sagt Schwester Tsige Habtemariam. Das Schlimmste sei für die Schulleiterin aber immer noch, dass viele Erblindungen eigentlich vermeidbar gewesen wären. "Das Problem sind fehlende Hygiene und Augenkrankheiten, die nicht behandelt werden", sagt sie. Am Anfang all dieser Probleme steht schlichtweg die Armut. Wer keinen Zugang zu sauberem Wasser hat, wird krank. Wer kein Geld für den Arzt hat, bleibt krank.
"Geheilt werden kann niemand mehr"
Dazu kommt, dass medizinische Versorgung häufig auch einfach fehlt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es in Äthiopien weniger als einen Arzt pro 10 000 Einwohner. In Deutschland kommen auf die gleiche Anzahl Menschen 35 Ärzte. An die St. Raphael Schule kommt jede Woche ein Arzt und untersucht die Augen der Kinder. "Geheilt werden kann aber niemand mehr", sagt Schwester Tsige Habtemariam. Auch für den kleinen Tibebu stehen die Prognosen schlecht. Inzwischen ist die Übung mit dem Blindenstock im Schulhof vorbei. Der siebenjährige Junge und seine Mitschüler sitzen wieder in ihrer Klasse.
Tibebu gehört zur Gruppe "Regenschirm". Wie ein Regenschirm aussieht, kann er erahnen. Er kann ihn erfühlen und immerhin noch die Umrisse erkennen. Doch der aufgeweckte Junge, der von Geburt an wenig sieht, wird sein Augenlicht mit der Zeit komplett verlieren. Deshalb lernt er die Blindenschrift schon jetzt mit einer Augenbinde. "Es ist besser, wenn er sich so früh wie möglich daran gewöhnt, wie es einmal sein wird", sagt seine Lehrerin Schwester Yeshi Yitna.