Kalif Mountaga Tall: "Schon mein Vater war ein Pionier des interreligiösen Dialogs."DER WEG IN DAS KALIFAT beginnt mit einer Autofahrt. Bis zum Kreisverkehr solle man fahren und dann anrufen für die weitere Wegbeschreibung. So heißt es in der Handynachricht, abgeschickt vom Kalifen persönlich. Das Auto schlängelt sich durch einige verwinkelte Straßen im Quartier Soprim, einem Stadtviertel von Dakar. Dann empfängt Kalif Mountaga Tall in seinem kleinen Privathaus, schräg gegenüber von der Moschee. Das Wort Kalif mag Erinnerungen an orientalische Märchen wecken, und im Begriff Kalifat schwingt wohl noch der Schrecken eines Islamischen Staates mit. Doch hier, im Senegal, geht es nicht um Märchen und nicht um Terror, Gott sei Dank und inch’Allah.
Ein Kalif steht an der Spitze einer muslimischen Gemeinde, die großen Generalkalifen sprechen für die mächtigen Sufi Bruderschaften, die für den Islam in Westafrika typisch sind. Aber auch jede Seitenlinie der muslimischen Großfamilien hat einen Kalifen als Familienoberhaupt – und ein solches ist auch Mountaga Tall.
"Ein Kalifat ist eine Regierung ohne Budget"
"Ein Kalif hat die Rolle eines 'Regulateurs'", sagt er, als er an seinem Wohnzimmertisch sitzt, und mit diesem französischen Wort ist das vielleicht ganz gut umschrieben: Ein Kalif vermittelt bei Streitigkeiten in der Familie, er soll benachteiligte Gläubige unterstützen, auch mit Geld, und allgemein das Gemeindeleben stabilisieren. "Ich sage immer: Ein Kalifat,", fügt Mountaga Tall hinzu, "ist eine Regierung ohne Budget".
Als es im Frühjahr 2021 zu gewaltsamen Protesten gegen die senegalesische Regierung kam, riefen die Kalifen des Landes zum Frieden auf, und der Konflikt kühlte sich ab. "Im Senegal haben wir traditionell einen offenen Islam", sagt André Guèye. ,"Der Andere wird nicht immer gleich als Feind angesehen, sondern in erster Linie als Mensch." Für André Guèye ist das überlebenswichtig. Denn Monseigneur André ist katholischer Bischof von Thiès und damit gehört er zur zahlenmäßig kleinen Minderheit katholischer Christen im Land. Bei rund 95 Prozent Muslimen ist die Zahl der Christen in der Tat überschaubar – und dennoch sind die Christen sichtbar.
Gegenseitige Besuche in Moschee und Kathedrale
Die Verfassung garantiert Religionsfreiheit, die guten Beziehungen zwischen den Religionen haben Tradition. "Schon mein Vater war ein Pionier des interreligiösen Dialogs", betont Kalif Mountaga Tall. Sein Vater und auch schon sein Großvater seien befreundet gewesen mit Kardinal Hyacinthe Thiandoum – sie besuchten sich gegenseitig in Moschee und Kathedrale, tauschten sich über Politik und Gesellschaft aus und dienten so den Menschen als Vorbild. Denn was man nicht vergessen sollte: Religiöse Führungspersonen haben in Westafrika ein anderes Gewicht als etwa im individualistisch geprägten Mitteleuropa.
Ein Imam und ein Priester, die öffentlich zu Toleranz und Versöhnung aufrufen, werden von ihrer Gemeinde gehört. Nicht umsonst fürchtet man andererseits den Einfluss radikaler Prediger, wie es sie verstärkt auch in Westafrika gibt. Gerade erst hat Senegals Präsident Macky Sall neue Gesetze erlassen, um ausländische Prediger besser zu kontrollieren und Islamismus einzudämmen. Doch das dürfte nicht reichen: Der Senegal brauche gar nicht unbedingt die Hardliner aus dem Ausland, man habe selbst genug radikale Religionsführer im eigenen Land, sagt ein katholischer Priester, der an dieser Stelle lieber ungenannt bleiben soll.
Ob am Dorfplatz oder bei der Arbeit: Christen und Muslime leben ganz selbstverständlich zusammen.
Erinnerungen an den verhinderten Kapellen-Bau
Bisher sind die Katholiken im Senegal von Bedrängnis oder gar Verfolgung verschont geblieben. Umso stärker jedoch hallt die Erinnerung an einige Ereignisse nach, die sich vor mehr als 30 Jahren zugetragen haben. Es dauert in Gesprächen oft nur wenige Minuten, bis davon geredet wird. In den 1980er Jahren wollte die kleine christliche Gemeinde von Tivaouane eine Kirche bauen. Es wäre nicht viel mehr als eine Kapelle geworden, doch Tivaouane ist die heilige Stadt der muslimischen Bruderschaft der Tidschanen.
Ein Zeitzeuge erinnert sich: Clement Faye, damals Schatzmeister der Kirchengemeinde und heute im Ruhestand, sagt: "Wir waren einfach so stolz auf unsere neue Kirche und wollten sie mit einer großen Feier einweihen.“ Mit den muslimischen Nachbarn war eigentlich alles besprochen. Doch plötzlich stießen sie auf Widerstände, deren Gründe sich heute nicht mehr genau erklären lassen. Der Kalif der Tidschanen, oder zumindest Leute in seinem Umfeld befürchteten vielleicht, dass die kleine Christengemeinde immer größer werden und sich das Machtverhältnis verändern könnte.
Christen sind kleine Minderheit
Religiöses Leben: Christen sind im Senegal die Minderheit.Es gab Proteste, nur mit Mühe konnten Bischöfe und Kalifen eine größere Eskalation verhindern und den Streit schlichten. Die Kapelle wurde nie eingeweiht. Das Gebäude steht noch und wird heute als staatliche Schule genutzt. Und die Christen in Tivaouane? "Wir treffen uns in einer kleinen Hauskapelle", sagt Pascal Ugue Boissy. Sie seien nur etwa 60 Gläubige, also eine wirklich kleine Minderheit in der Stadt. Dennoch sei das Verhältnis zu den Nachbarn gut, das möchte er betonen, genauso wie sein Freund Ely Rock Kampal. Der arbeitet zum Beispiel in der Stadtverwaltung. Es gebe kaum Probleme im Zusammenleben.
Ein Beleg, der immer wieder genannt wird: Man besucht sich gegenseitig an den Feiertagen. Muslime wünschen frohe Weihnachten und gesegnete Ostern, und auch die Christen bringen Grüße und Geschenke zum islamischen Opferfest Tabaski oder zum Fastenmonat Ramadan. Oft feiern die Christen einfach mit: "Ich liebe Tabaski", sagt Pascal Boissy, "weil wir dann von unseren muslimischen Nachbarn so viel Fleisch geschenkt bekommen, dass wir genug bis Weihnachten haben."
Geschätze 99 Prozent der Menschen sind Animisten
Im Gegenzug öffnen sie ihre Häuser für muslimische Wallfahrer, die zur Großen Moschee pilgern und ein Quartier suchen. Während Pascal Boissy und Ely Kampal von ihren Erfahrungen erzählen, ist Elys Mutter aus dem Haus gekommen. In einer Ecke des Innenhofes steht ein kleiner Altar. Kein christlicher, nein, er ist für religiöse Zeremonien gedacht, die sich an die Geister der Ahnen und sonstige Gottheiten wenden. So ist es nämlich auch im Senegal: 95 Prozent der Menschen mögen Muslime sein, und fünf Prozent Christen. Aber, so heißt es oft, wohl 99 Prozent sind Animisten und glauben zugleich auch an die traditionelle afrikanische Geisterwelt und die Macht der Ahnen.
Ein ganz besonderer Friedhof
Wie auch auf der Muschelinsel von Fadiouth. Sie liegt in einer Lagune weiter südlich von Thiès und Dakar, und hier findet sich ein Ort, wie es ihn zwar ein, zwei Mal noch im Senegal, aber ansonsten nur selten auf der Welt gibt: ein Friedhof, auf dem Christen und Muslime gleichermaßen bestattet werden. Mächtige Baobab Bäume werfen Schatten über die Muschelbänke. In den Baobabs wachen die Geister über die Toten, heißt es. Der katholische Priester der Insel, die mehrheitlich christlich ist, berichtet, dass sogar viele senegalesische Auswanderer nach ihrem Tod hierher zurückkommen.
Ein seltener Ort, an dem Christen und Muslime nebeneinander beerdigt werden: Der gemischte Friedhof auf der Insel Fadiouth.
Wer etwa in Frankreich, Spanien oder Italien gestorben ist, dessen Leichnam wird oft teuer zurückgebracht, damit der Verstorbene in der afrikanischen Heimaterde beerdigt werden kann. Dass es neben den christlichen Gräbern auch viele Grabstätten mit Halbmonden und arabischen Schriftzeichen gibt, gilt als weiterer Beleg für ein friedliches Miteinander der Religionen. Auch wenn etwa der katholische Priester Epiphane Mbengue betont: "Wenn wir erst nach unserem Tod in Frieden zusammen sind, dann ist es zu spät."
"Im sozialen Engagement wird das gute Zusammenleben deutlich"
Abbé Epiphane leitet die Caritas-Struktur der Diözese Thiès, das heißt, er ist betraut mit den Entwicklungsprojekten seines Bistums. Mit diesem "Dialog der guten Taten" versucht die Kirche, das Leben der Menschen besser zu machen. Auch Muslime schicken ihre Kinder auf katholische Schulen und in Dörfern, die von Dürre bedroht sind, teilen Christen und Muslime sowieso dasselbe Schicksal. "Im sozialen Engagement wird das gute Zusammenleben deutlich", sagt Bischof André Guèye. ,"Die Kirche ist nicht nur eine religiöse Gemeinschaft. Sie ist anerkannt, weil sie gesellschaftlichen Einfluss hat - sei es über die Caritas, über unsere Schulen oder über das Gesundheitswesen, wo Christen und Muslime gleichermaßen willkommen sind."
Tabuthema: Manche Koranschulen schicken Kinder zum Betteln.Ein Thema scheint allerdings ein wenig mit einem Tabu belegt. Denn was ist mit den vielen bettelnden Kindern, die auf den Straßen von Dakar, Thiès oder auch anderen Städten wie Kaolack oder Touba zu sehen sind? Immer wieder gibt es Berichte, etwa von der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch", dass dubiose Koranschulen ihre Schützlinge ausbeuten und zum Betteln auf der Straße zwingen. Nur wenn sie beim Imam genug Geld abliefern, bekommen sie zu essen. Kirchenvertreter sehen das Problem, doch öffentliche Kritik an diesem System ist schwierig. Nicht einmal der Staat, der doch für das Wohlergehen auch der Jüngsten im Lande zuständig wäre, scheint das Problem angehen zu wollen. Immerhin, auch dem Kalifen Mountaga Tall ist der Anblick bettelnder Kinder nicht angenehm. "Es liegt daran, dass vielen Koranschulen das Geld fehlt", sagt er. Kalif Tall plant gerade eine eigene Koranschule, in der das anders sein soll. Denn auch er ist überzeugt: Nicht allein der Glaube zählt. Sondern die gute Tat.