"Moment", sagt der belgische Soldat, und blickt von seinem Bildschirm auf. „Lasst uns nochmal zurückgehen, vielleicht haben wir etwas übersehen.“ Sofort bewegt sich das schwarz-weiße, etwas grobkörnige Kamerabild zurück zu der Szenerie, die eben noch zu sehen war. Der Offizier schaut noch einmal ganz genau hin. Ein Kontrollpunkt am Straßenrand, an dem sich mehrere Busse stauen.Warum halten sie an? Jede noch so kleine Beobachtung kann zur wertvollen Information werden in diesem scheinbar unendlichen Kampf gegen Terror und Gewalt. Was hier gerade stattfindet, ist die Auswertung von Luftaufnahmen über der Wüstenlandschaft von Mali. Irgendwo zwischen den Städten Gao und Gossi zieht eine unbemannte Flugdrohne vom Typ Heron ihre Bahnen, vier Kilometer über dem Boden. Selbst aus dieser Entfernung liefert sie Bilder, die live und in Echtzeit analysiert werden.
Krisengebiet Mali: Straßenszene aus Kayes
Über 1.000 Bundeswehrsoldaten als Teil der UN-Mission in Mali
Mit über 1.000 Soldaten ist die deutsche Bundeswehr hier in Mali stationiert, sie arbeitet im Verbund mit vielen anderen Nationen in der UN-Mission MINUSMA. Ihr Hauptauftrag: Informationen gewinnen und auswerten, um zum Bild der Lage beizutragen. Den aktiven Anti-Terror-Kampf betreibt die ehemalige Kolonialmacht Frankreich mit ihrer „Operation Barkhane“. „Unsere Mission ist eine Stabilisierungsmission“, erläutert Christian Wilhelm, Oberstleutnant und Mitglied im Führungsstab des deutschen Kontingentes. „Es gibt also in dem Sinn keinen Gegner, gegen den wir operieren. Wir operieren für die ortsansässige Bevölkerung und versuchen, das wiederherzustellen, was durch die Abwesenheit des malischen Staates verloren gegangen ist: ein Gefühl von Sicherheit.“
Ziel ist ein "Gefühl von Sicherheit"
Seit genau fünf Jahren gilt der Friedensvertrag von Algier, der zumindest auf dem Papier die Kämpfe in Mali beendet hat, die 2012 in der Folge des Libyen-Krieges ausgebrochen waren. Tuareg forderten einen eigenen Staat namens Azawad, Islamisten kaperten die Revolte für sich und planten ein Kalifat, mit Scharia und so weiter. Laut einem Bericht von „Human Rights Watch“ war 2019 das tödlichste Jahr für Zivilisten in Mali. Mehr als 450 Menschen kamen bei Überfällen und Anschlägen ums Leben. Die „International Crisis Group“ wirft den Konfliktparteien vor, dass sie den Friedensprozess bewusst verzögern würden, weil sie nur dann von internationalen Hilfsgeldern profitieren können, wenn die Krise weiter anhält.
Internationale Zusammenarbeit: Rumänien stellt die Helikopter, die Verletzte in Sicherheit bringen sollen.
Diese Krise ist längst nicht mehr nur auf den Norden beschränkt. Sie hat das ganze Land erfasst. Das müsse man begreifen, wenn man eine Lösung finden wolle, sagt Jonas Dembélé, der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz von Mali. Jonas Dembélé ist Bischof in der Stadt Kayes, die eigentlich weit entfernt vom umkämpften Norden liegt. Aber in Kayes zeigen sich viele Probleme des Landes ganz deutlich. Die Stadt lag einmal an der Bahnstrecke von Dakar im Senegal nach Bamako, der Hauptstadt von Mali. Doch die Bahnlinie liegt seit Jahren still. Mitte der 2000er-Jahre wurde ein Flughafen gebaut, damit die fast 900 Kilometer nach Bamako im Flugzeug bewältigt werden konnten. Doch der Flugbetrieb wurde längst wieder eingestellt.
Mali im Weltentwicklungsindex: Platz 184 unter 189
Das meiste Geld der Regierung fließe in den Kampf gegen Krieg und Terror, sagt Bischof Dembélé. An allen anderen Dingen – Gesundheitswesen, Wasserversorgung, Strom – werde gespart, und eine Region wie Kayes wird immer weiter abgehängt. Seit dem Ende der Militärherrschaft 1991 hat es praktisch kein komplettes Schuljahr in Mali gegeben. Meist traten die Lehrer in Streik, weil sie kein Gehalt mehr bekamen. Auf dem „Weltentwicklungsindex“ nimmt Mali Platz 184 unter 189 Ländern ein.
Die Probleme des Landes sind vielfach bekannt, nur ihre Lösung ist umstritten. Eine Diskussion unter freiem Himmel zeigt das. Es ist der Kirchhof von Kayes, in dem Vertreter von Christen und Muslimen zusammenkommen. Das Land ist überwiegend muslimisch, Christen sind in der Minderheit. Es dauert nur wenige Minuten, bis die Sprache auf die Krise im Norden kommt. Schnell ist man sich einig: Die Religionen sind nicht die Ursache, auch wenn es gerne so dargestellt werde. „Es sind Kriminelle, die uns gegeneinander ausspielen wollen“, sagt ein Vertreter der größten Moscheegemeinde der Stadt. Dann steht ein Repräsentant der Katholiken auf, und sagt: „Woher kommen denn die Waffen? Es ist doch der Westen, der sie uns verkauft!“
Per Drohne und mit Patrouillenfahrten sammeln die Soldaten Informationen über die Region.
Unterrichten im Ausnahmezustand: Kein geregelter Schulalltag möglich
Gerade unter der jungen Bevölkerung wachse die Ungeduld, bestätigt Bischof Jonas Dembélé. Warum, so würden viele fragen, schaffen es die Europäer mit all ihren militärischen Gerätschaften nicht, die feindlichen Gruppen zu besiegen? Geht es am Ende doch um andere Dinge? Um strategischen Einfluss im Sahel, um die neu entdeckten Goldfelder in Nord-Mali, um Migrantenabwehr? Vor diesem Hintergrund also hat sich die Bundesrepublik Deutschland 2013 auf die Mission Mali eingelassen. Hier im Camp Castor haben die Soldaten mit ihrer hochtechnisierten Ausrüstung mit bis zu 50 Grad Hitze und dem Wüstensand zu kämpfen, der in alle Fahrzeuge und Maschinen dringt. Die beteiligten Nationen arbeiten zusammen, rumänische Piloten fliegen Rettungseinsätze per Helikopter, die Heron-Drohnen kommen aus Israel, Belgier und Deutsche werten die Luftbilder aus; von den Soldaten stammen viele aus Bayern.
Gespenstisch, aber nicht ausgestorben
In die nahe Stadt Gao kommt man nur mit gepanzerten Fahrzeugen und bewaffneter Begleitung. Gao liegt am Niger-Fluss und ist die wichtigste Stadt der Region, viel bedeutender als das in Europa so bekannte Timbuktu. Die Stadt wirkt gespenstisch, aber nicht ausgestorben: geschlossene Ladenzeilen, verlassene Häuser, vor denen die Menschen in Nomadenzelten campieren. Und es gibt Orte, an denen die Hoffnung auf Frieden lebt. „Kommen Sie herein“, sagt David Douyon, einer von zwei Leitern der katholischen Schule von Gao, die in den 1950er-Jahren vom Orden der „Weißen Väter“ gegründet wurde. Der Unterricht hat wieder begonnen, nachdem die Schule in Kriegszeiten 2012/13 von Dschihadisten besetzt worden war. Sie benutzten das Gelände quasi als Kaserne für ihre Kämpfer. „Und sie haben viel zerstört“, sagt Schulleiter Douyon. Er zeigt die Schulaula – Stühle, Bänke, Computer, alles sei geraubt worden. Das Dach: zerstört. Während er spricht, probt eine Gruppe von Schülerinnen gerade einen Tanz für eine bevorstehende Schulaufführung. Es ist ein purer Wille zum Überleben, den diese Schülerinnen ausstrahlen. In der Corona-Krise musste die Schule kurzzeitig schließen. „Jetzt sind immerhin die Schüler zurück, die demnächst ihr Examen schreiben“, wird David Douyon einige Wochen nach diesem ersten Treffen berichten.
Überlebenswille: In der katholische Schule von Gao hat der Unterricht wieder begonnen, die Hoffnung auf Frieden lebt.
„Der Krieg, der hier so lange präsent war, hat Gott sei Dank keine Narben geschlagen, die nicht wieder verheilen könnten“, sagt Oberstleutnant Wilhelm. Das klingt vielleicht optimistischer, als es die Lage eigentlich zulässt. Nicht weit von der Schule liegt die katholische Pfarrkirche von Gao. Der sandfarbene Bau im Sahel-Stil wurde vor kurzem renoviert, nachdem die Kirche bei einem Angriff beschädigt worden war. Eine kleine katholische Gemeinde hält das Glaubensleben aufrecht. Im Schutz der Kirchenmauern kann man ihre Sprecher treffen. Sie berichten davon, wie immer wieder verdächtige Gestalten um das Kirchengelände herumschleichen. „Wir wissen nicht, wer das ist und was sie vorhaben“, sagt Philippe Omoré, der ursprünglich aus Benin stammt. Einen Pfarrer gibt es im Moment nicht mehr – es wäre noch immer zu gefährlich, sagt die Kirchenleitung. Über ihre örtliche Caritas-Struktur betreibt die Kirche in Gao auch ein Haus für junge Migranten, die auf ihrem Weg durch die Wüste in Mali gestrandet sind. Besuchen lässt sich die Einrichtung nicht – die Sicherheitslage erlaubt es nicht.
Langer Weg zum Frieden
Wie real ist die Gefahr? In der so genannten „Abendlage“ kommen die führenden Offiziere von „Camp Castor“ zusammen und tauschen Informationen aus. Die Einzelheiten müssen vertraulich bleiben, daher nur soviel: Es vergeht kein Tag in Mali, an dem nicht an irgendeinem Ort des Landes ein Angriff, ein Überfall oder eine Explosion geschieht. Das kann in einem Flüchtlingslager sein oder einfach auf der Straße, wenn ein Eselskarren über eine Sprengfalle fährt. Und immer wieder gibt es auch die Meldung, dass in der Hauptstadt größere Mengen Sprengstoff sichergestellt wurden. „Der Weg zum Frieden ist ein sehr langer“, sagt Oberstleutnant Wilhelm. Im Frühjahr 2020 wurde der deutsche Militäreinsatz ohne allzu breite öffentliche Diskussion verlängert. Zwei deutsche Todesopfer waren bisher zu beklagen. Auch wenn man von offizieller Seite diesen Vergleich nicht ziehen würde – mancherorts (etwa in einem Papier der Konrad-Adenauer-Stiftung) wird bereits diskutiert, ob aus Mali für die Bundeswehr ein „afrikanisches Afghanistan“ werden könnte.
In Kayes diskutieren Imame und Priester über die Lage der Nation.
Religiöse Führungspersonen als Vermittler und Versöhner
Kirchenleute wie Bischof Jonas Dembélé stehen bereit, wenn es um eine Rolle als Vermittler und Versöhner geht. „Der Staat wendet sich oft an die Religionsgemeinschaften. Ob Christen oder Muslime – religiöse Führungspersonen werden gehört und haben guten Kontakt zur Bevölkerung.“ Er zitiert ein Motto von Kardinal Philippe Ouédraogo aus dem Nachbarland Burkina Faso: „Der Frieden ist ein Geschenk Gottes. Aber er ist auch eine Frucht der harten Arbeit von uns Menschen.“
Man könne nicht alles nur in die Hände Gottes legen. „Wir müssen uns selber engagieren, damit sich die Menschen aus ihrer Misere befreien können.“ Bis dahin werden über Mali die Militärdrohnen kreisen. Die Einschätzung des belgischen Offiziers im Kontrollraum von „Camp Castor“ fiel am Ende übrigens eindeutig aus: Auch, nachdem er mehrmals hingesehen hatte, konnte der Analyst auf den Luftbildern keine verdächtigen Fahrzeuge, keine Menschen mit bösen Absichten, keinen geplanten Anschlag erkennen. In seinen Bericht tippte er deshalb die Zeile: „Normal pattern of life“ – was soviel heißt wie „normales Alltagsleben.“ Ein „normales Alltagsleben“ – ist das vielleicht schon: der Frieden?
MALI – FÜNF JAHRE FRIEDEN, TÄGLICH GEWALT
Revolutionsführers“ Gaddafi im Jahr 2011 lösten auch die bis heute andauernde Krise in Mali aus. Bewaffnete Tuareg-Söldner flohen aus Libyen und erklärten im April 2012 Nord-Mali zum unabhängigen Staat „Azawad“. Nur drei Monate später entrissen ihnen islamistische Gruppen die Macht. Kurzzeitig schien Mali ins Reich des „Islamischen Staates“ abzugleiten. Frankreich griff im Januar 2013 ein. Das Friedensabkommen von Algier (2015) soll nunmehr eine Aussöhnung zwischen der Zentralregierung in Bamako und den Parteien des Nordens ermöglichen. Auf dieser Basis steht auch das Mandat der deutschen Bundeswehr als Teil der UN-Mission MINUSMA. Doch die Umsetzung läuft schleppend, und die Dschihadisten haben sich ohnehin nie an dem Friedensprozess beteiligt. So vergeht kaum ein Tag ohne terroristischen Anschlag. Die zahlenmäßig kleine katholische Kirche leistet wichtige Beiträge zur Verständigung. „Lasst uns Baumeister des Friedens sein“ lautet das Jahresmotto der Diözese Kayes.