ES GIBT IMMER zwei Arten, die Dinge zu betrachten. Den Staub und den Sand zum Beispiel. An diesem Tag im Februar liegt er schwer über Niamey, lastet auf der Stadt wie eine erstickende Decke, kriecht in Nase, Augen und Rachen, lässt Häuser und Menschen zu in Ocker getauchten, unscharfen Bildern werden. An solchen Tagen hebt in der Haupstadt von Niger kein Flugzeug ab. Nur wenige Autos fahren. Das Leben steht still. Aber dann gibt es eben auch den Sand, der die Häuser, die Menschen, die Tiere in Gold taucht.
"So habe ich das Dorf meiner Kindheit in Erinnerung", sagt Marie-Thérèse Djibo. "Bei uns gab es eine Redensart: Wenn du den Sand in zwei Hände nimmst und drückst, kommt Butter heraus." Eine knappe Stunde dauert die Autofahrt von der Hauptstadt in das Dorf, in dem Sand zu Butter wird. Immer entlang des träge dahinfließenden Flusses Niger, vorbei an Bauern, die kräftige Ziegen in einer Landschaft weiden, die nicht erkennen lässt, wo die Tiere etwas zu fressen finden.
"Kurz anhalten, bitte", ruft Marie- Thérèse Djibo plötzlich und tippt dem Fahrer an die Schulter. Am Straßenrand aufgebaut ist ein Stand, an dem die getrockneten Früchte des Baobab-Baumes und kleine Brocken Gummi Arabicum feilgeboten werden. "Das sind die Süßigkeiten, die die Eltern für uns Kinder früher dabei hatten, wenn sie aus der Stadt zurück kamen", erklärt die 70-Jährige, während ihr ein Junge drei Tüten durchs Autofenster reicht. Sie zählt ein paar Scheine ab und legt sie in seine geöffnete Hand.
In den Tüten sind kleine Bröckchen des getrockneten Harzes. Marie-ThérèseDjibo nimmt eines davon heraus, reibt es zwischen den Fingern, bis es glänzt und bietet es den ausländischen Mitreisenden an. "Wir nennen das eine natürliche Impfung, weil es durch viele Hände gegangen ist", scherzt sie. "Na, möchtet ihr nicht probieren?" Drei Monate später, im Mai, ist es undenkbar, etwas aus einer Hand anzunehmen, die vorher andere Hände geschüttelt hat. Aber nicht nur das: Schon die Autofahrt ins Dorf, in dem einst Sand zu Butter wurde, ist unmöglich: Ausgangssperre und Kontaktbeschränkungen gelten auch hier, im westafrikanischen Sahelstaat Niger. Sie gelten für die 99 Prozent Muslime im Land, die wie jedes Jahr im Ramadan tagsüber nicht essen und nicht trinken. Aber das, was den Ramadan ausmacht, das gemeinschaftliche Fastenbrechen am Abend, fällt nun aus, Hygienevorschriften.
Dialog braucht Begegnung
Und auch für Marie-Thérèse Djibo, die elegante Dame aus der gehobenen Gesellschaft und einflussreiche Fürsprecherin der kleinen katholischen Kirche in dem muslimischen Land, haben die Maßnahmen gegen das Coronavirus die Pausentaste gedrückt. Denn der Dialog zwischen Muslimen und Christen, für den sie sich an der der Seite des Erzbischofs von Niamey einsetzt, braucht vor allem eines: die Begegnung. Unbarmherzige Hitze herrscht. Sie treibt das Thermometer weit über die 40-Grad- Marke. Covid-19 ist zum Glück Ende Mai in Niger zahlenmäßig kaum angekommen: 3500 Menschen sind getestet, 160 Menschen sind in Behandlung, 50 Menschen sind gestorben.
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie, die Ausgangssperren, Kontaktverbote und Hygienevorschriften, die fast alle Länder der Welt zum Einsatz gebracht haben, haben hier eine enorm leiderprobte Bevölkerung getroffen: Die, die schon hungerten, sind nun am Verhungern. Die Hälfte der zwei bis drei Millionen Menschen, deren „Ernährungssicherheit nicht gewährleistet ist“, wie es in der Sprache der Entwicklungshilfe heißt, sind Kinder. Der Erzbischof von Niamey, Laurent Lompo, hat Mitte April eine Videobotschaft nach Deutschland geschickt, in der er die verzweifelte Lage seiner Landsleute schilderte: "Bei uns in Niger ist die Situation in besonderer Weise schwer zu bewältigen. Eine Krise folgt der nächsten. Der djihadistische Terror macht die Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land. Sie fliehen in die Städte. Jetzt kommt noch das Coronavirus. Die Märkte und Geschäfte mussten schließen, alles wird teurer. Die Felder werden nichtmehr bestellt, die Ernährung wird immer schwieriger."
Pandemie der Gier
Ernährung und Sicherheit – das sind die zwei großen Themen in Niger. Auch ohne die Corona-Katastrophe, die die Europäer den Afrikanern prophezeit hatten und die glücklicherweise bisher in dieser Form nicht eingetreten ist, reicht das schon. Die Pandemie der Gier zwingt die Region ohnehin in die Knie: Die frühere Kolonialmacht Frankreich entlässt die Sahelländer durch langfristige Handelsverträge nicht aus ihrem Klammergriff. Im Verbund mit lokalen Eliten nimmt man den Hunger der einen und den Reichtum der anderen in Kauf. Was aber geschieht, wenn die Jugend weder Hoffnung noch Bildung hat, ist auch kein Geheimnis: In den vergangenen Jahren ist der Terrorismus in Niger ebenso wie in seinen Nachbarländern drastisch gestiegen. Dagegen hilft nur Dialogbereitschaft und langer Atem.
"Wir haben das im Jahr 2015 hier gesehen, als Mohammed-Karikaturen in einer Satirezeitschrift in Paris erschienen und bei uns hier die Kirchen brannten", sagt Marie-Thérèse Djibo. "Die Gewalt war politisch motiviert, aber traf uns als christliche Minderheit." Marie-Thérèse Djibo, eigentlich Fatouma Marie-Thérèse Djibo, ist nicht in diese Minderheit hineingeboren. Sie hat sie sich selbst ausgesucht: Im Alter von 50 Jahren hat sich die Muslima und verheiratete Mutter von vier Kindern taufen lassen. Eine Entscheidung, die Kreise zog, denn ihr Ehemann war Minister und sie selbst 1992 Abgeordnete im Parlament. Aber auch in dieser Funktion erschien ihr der einfachere Weg nicht als der geeignete: "Nach wenigen Wochen in dieser politischen Position sah ich, dass die Parlamentarier hauptsächlich daran interessiert waren, ihre eigenen Interessen durchzusetzen", sagt sie. "Also ließ ich das bleiben, denn auf diese Weise kann unser Land nicht vorankommen."
Das ist es, worumes ihr geht: das Land voran zu bringen. Ihr Land Niger, in dem Sand zu Butter wird. Aber warum als Katholikin? "Glauben Sie daran, dass Jesus einen Menschen rufen kann?", fragt sie. Und erklärt im nächsten Atemzug, was die Schönheit des muslimischen Glaubens ausmacht. Vielleicht ist es dieses große Herz und der unbestechliche Verstand, der ihr nach wie vor die Türen bei den muslimischen Würdenträgern offen hält. Dort ist sie keine Unbekannte: Über Jahre hinweg hat sie für die Muslime in Niger die Pilgerfahrt nach Mekka koordiniert. Man kennt sie als eine Frau des Glaubens.
Repräsentantin der Kirche
Nun repräsentiert "Fati", wie sie von denen gerufen wird, die ihr nahestehen, die katholische Kirche auf nationaler Ebene im Komitee für interreligiösen Dialog. Eine gewichtige Stimme, deren oberster muslimischer Repräsentant ein einflussreicher Scheich des Landes ist. Es war dieses Komitee, das sich 2015 als erstes im Fernsehen zu Wort meldete, als Kirchen und Schulen brannten, und an die Vernunft der Menschen appellierte. Bis heute tut die aus Muslimen und Christen besetzte Gruppe das. "Allein, dass die Kommission existiert, ist ein Verdienst. Dass wir verstanden haben, dass wir uns an einen Tisch setzen müssen", sagt sie. Doch es sind nicht nur die Treffen der religiösen Führer, die wichtig sind, sondern vor allem das Alltägliche: "Es braucht ein wirkliches Interesse am anderen und die Bereitschaft, sich von Vorurteilen zu trennen", sagt Marie-Thérèse Djibo. "Christen gelten hier zum Beispiel als geizig. Das ist Unsinn! Sobald man einen anderen Menschen kennenlernt, merkt man, wie er wirklich ist."
Katholische Schulen genießen im Land hohes Ansehen.
"Wollt ihr überhaupt unsere Präsenz hier?", ließ der französische Präsident Emmanuel Macron kürzlich bei den Staatschefs der Sahelländer anfragen, wohl wissend, dass die Anwesenheit des französischen Militärs in der lokalen Bevölkerung an Zustimmung verliert. Hört man die Leute in Niger reden, auch die gebildeten, so gibt es kaum einen, der sich nicht fragt, warum die Militärpräsenz der Europäer und Amerikaner so groß ist, dem Terrorismus aber nicht beizukommen scheint.Wohin das Geld aus dem abgebauten Uran geht und warum die Menschen verhungern. Nach der Corona- Stille werden diese Fragen wieder lauter werden.
NIGER
Der traditionelle Islam in Niger ist der liberale Islam der Bruderschaften. Schon 30 Jahre nach dem Tod des Propheten Mohammeds (632 n.Chr.) breitete sich die Religion in Niger aus. Christliche Missionare wurden später als Männer und Frauen Gottes gesehen und standen oft unter dem Schutz eines Sultans. In den Familien ist es keine Seltenheit, dass sich die Religionen mischen. "Einer meiner Söhne ist Muslim geblieben wie sein Vater", sagt Marie-Thérèse Djibo. "Das ist für niemanden ein Problem." Aber zugleich gibt es eben auch diejenigen, die zur Gewalt aufrufen. Besonders in den Grenzregionen zu Mali, Burkina Faso und Nigeria ziehen Banden durch die Dörfer, terrorisieren Menschen und überfallen Kirchen. Die Caritas im Niger (Cadev) schickt ihre Autos aufgrund der Gefahrenlage nicht mehr in diese Regionen. "Wir müssen Fahrzeuge mieten, die man nicht erkennen kann, sonst werden unsere Mitarbeiter erschossen", sagt der Leiter der Caritas Niger, Raymond Younoussi Yoro.