Ein Stück EU auf dem afrikanischen Kontinent...Younes Mohamed fährt in seinem schwarzen VW Golf an der Küste von Ceuta entlang, der spanischen Exklave in Afrika. Es ist ein sonniger Tag, der Westwind bringt Feuchtigkeit. Es ist ein Tag, der sein Leben verändern wird. Plötzlich springt ein Mann in feuchter Kleidung auf die Straße. Younes macht eine Vollbremsung. Der Mann weint und fleht auf Arabisch: „Bitte, kannst du mir eine Maske geben?“ Überrumpelt schaut Younes ihn einen Moment lang an, nimmt dann die eigene ab und reicht sie ihm aus dem Fenster. Und dann sieht er sie auf sich zukommen.
Mehrere tausend Menschen überquerten am 17. Mai 2021 die europäische Außengrenze in Nordafrika. Aus Marokko kommend schwammen oder gingen sie den Grenzzaun entlang, der auf beiden Enden des 19 Quadratkilometer großen Ceuta ins Meer ragt, und waren dann hier. Immer noch auf dem afrikanischen Kontinent zwar, aber auf europäischem Boden. Eine Reise von ein paar Minuten, die alles bedeutet. Am nächsten Tag waren es laut Regierung insgesamt 8000 Menschen, die es geschafft hatten, darunter Familien und schätzungsweise 1500 Minderjährige. Mit ihnen kamen vom spanischen Festland Soldaten, Medienvertreter und Politiker, um zu kontrollieren, zu erklären und Meinungen kundzutun. Beunruhigt schaut Younes auf seinem Handy Videos an, von den Ereignissen, die Ceuta in diesem Ausmaß noch nie erlebt hat.
Sabah organisiert für die Migranten Duschen, Kleider und Essen.Der 32-jährige Friseur, der vor der Pandemie auf dem Festland in Madrid und Andalusien gelebt und gearbeitet hatte, war zu diesem Zeitpunkt seit einem halben Jahr zurück in Ceuta, an dem Ort, in dem er aufgewachsen ist. In einem muslimisch geprägten Viertel, neben einer Moschee, einem Schlachthof und dem ehemaligen Gefängnis. Und im Haus von Sabah, mit ihren vier Kindern, mit den Freunden und der Familie. „Dieses Haus war immer offen für alle, so wie auch heute wieder,“ sagt er und lacht.
An jeder Wand im Haus stehen orientalische Sofas. Auf ihnen liegen gefaltete Pullover, Hosen, T-Shirts. Je zwei dunkle Holztische stehen in der Raummitte. Darauf stapeln sich Badehosen und Schuhkartons. Eine Frau mit schwarzem Kopftuch zeigt drei Jugendlichen, wo sie die Unterhosen finden, hält Kleidungsstücke an ihre Körper, um die Größe zu schätzen. Dann schickt sie sie zum Duschen, den einen in das untere, den anderen in das obere Badezimmer, aus dem soeben eine Haushaltshilfe mit dem Wischmopp tritt. Sie geht in die Küche, wo in einem riesigen Topf eine Linsensuppe blubbert. An dem einen ovalen Esstisch belegen zwei junge Männer Brötchen mit hartgekochten Eiern, Gemüse und Thunfisch, an dem anderen Tisch sitzt Sabah Mohamed.
Die 60-jährige Spanierin trägt ein beiges Kopftuch zu schwarzem Kleid und Leggings. Auf Spanisch und Arabisch antwortet sie den Leuten, die sie um Rat fragen, im Haus und am Telefon. Es war nicht ihr Plan, sich in dem leerstehenden Haus ihrer Eltern um die obdachlosen Marokkaner zu kümmern, die hierbleiben wollen; auch nicht um die anderen, die dringend hier wegwollen. „Aber wenn jemand Hilfe braucht, würdest du ihm nicht helfen?“
Reges Treiben auf dem Hof von SabahIm März 2020 hat Marokko die Grenze zu Ceuta geschlossen. Menschen, die morgens zum Arbeiten kamen, konnten abends nicht mehr heim. Seither sind Ehepartner und Verwandte gestorben, Kinder verwaist, Häuser verlorengegangen. Alles in ihrer Abwesenheit. Sie sind gefangen in Europa. Auf der anderen Seite warten Angestellte, die nicht zu ihrer Arbeitsstelle gelangen können, Familien, Freunde und Ferienhäuser der Spanier, die bis dahin regelmäßig die Grenze überquerten, weil das einfacher ist, als mit der Fähre eineinhalb Stunden auf das spanische Festland zu fahren. Wohlhabende Marokkaner kamen zum Einkaufen nach Ceuta, arme, um den Sperrmüll abzuholen, den die Ceutís auf die Straße stellen. Die Spanier tankten im Nachbarland billig die Autos voll und kauften Obst und Gemüse, das dort obendrein auch weniger mit Pestiziden behandelt ist als in Europa, wie Younes anmerkt.
Sabah ist Geschäftsfrau. Sie stellt Geschenkpakete für Frischvermählte und junge Mütter zusammen, Pantoffeln, Dessous, Kosmetikartikel, die sie aus der Türkei bezieht und dann vor allem an die muslimische Zielgruppe verkauft, die in Ceuta über ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Am Morgen, als Younes dem Migranten seine Maske gibt, ist sie auf dem Weg zu einer der drei verbliebenen Lagerhallen in Grenznähe. Sie sieht, wie Migranten Steine über den Zaun auf spanische Soldaten werfen, wie Menschen den Hügel herunter und auf den Zaun zu rennen. Sabahs Einschätzung zufolge wären bald mehr Migranten als Ceutís in der Stadt gewesen, hätte die Regierung nicht das Militär eingeschaltet, um die Grenze zu schützen. „Es war beängstigend. Ich dachte, das wird ein zweiter grüner Marsch“, sagt sie und spricht aus, was viele denken.
Der „grüne Marsch“ war eine politischen Aktion der marokkanischen Regierung in den Siebzigerjahren. Um Spanien zur Aufgabe seiner Kolonie, der Region Westsahara, zu bewegen, hat sie 350 000 unbewaffnete Menschen dorthin geschickt. Auch auf Ceuta erhebt Marokko Anspruch, ebenso wie auf die zweite spanische Exklave Melilla, die weiter östlich liegt. Für die Ceutís ist klar, dass es Marokko bei der Grenzschließung im letzten Jahr nicht wirklich um die Pandemie ging. Vielmehr sehen sie sie als Vorwand dafür, Ceuta weiter von Melilla abzukapseln. Als die Regierung im Mai dieses Jahr die Grenze öffnete, um Tausende von Migranten nach Ceuta durchzulassen, ging es allerdings wieder um die Region Westsahara. Der Anführer von deren Unabhängigkeitsbewegung wurde in Spanien medizinisch versorgt. Das ging Marokko genauso gegen den Strich wie die deutsche Kritik an dem ehemaligen US-Präsidenten, Donald Trump, nachdem dieser die Souveränität Marokkos über das Gebiet anerkannt hatte. Das Königreich rief seine Botschafterin aus Berlin zurück, aus Deutschland konnte man nicht länger nach Marokko einreisen. Und an der Grenze zu Ceuta machte Marokko Druck, indem es seinen Grenzbeamten eine Pause gönnte.
Ahmed flüchtete aus Marokko aufgrund seiner Homosexualität. Er leidet unter Depressionen.Ahmed (Name geändert) wird diesen Tag nie vergessen. Er kommt aus der sieben Kilometer entfernten Nachbarstadt Fnideg, welche die Ceutís auch Castellejos nennen, weil sie so hieß, als sie noch spanisch war. Der 21-jährige gab seinen Schlüssel und sein Handy einem Freund und bat ihn darum, die Gegenstände seinen Eltern zu geben, sollte er in drei Stunden nicht zurück sein. Dann ging er zum Strand. „Ich wusste immer, dass ich raus muss“, sagt der junge Mann und freut sich, dass Leute ihm in Spanien sagen, er könnte mit seinen blonden Strähnchen als Deutscher durchgehen. Weil er homosexuell ist, ist er in Marokko ein Krimineller, dem bis zu drei Jahre Gefängnis drohen.
Die ersten Nächte in Ceuta verbringt er im Wald. Dann schließt er sich einer Gruppe anderer Geflüchteter an, den falschen, wie er feststellen muss. Sie stehlen seine Sachen, mobben ihn und schließlich kommen sie darauf, warum er hier ist. „Als sie wussten, was ich bin, haben sie mich bedroht und fortgeschickt“, erzählt er. Younes fand ihn eines Abends versteckt auf einem Friedhof. Er war geschwächt, hatte sich davor fünf Tage ohne Essen im Wald versteckt, weil er Angst davor hat, abgeschoben zu werden und dann erst recht juristische Probleme zu bekommen.
An machen Tagen stapeln sich die Kleiderspenden.Aus demselben Grund sind auch anderen Migranten noch immer auf der Straße. Sabah erkennt sie mittlerweile, ihre Schützlinge. Sie tragen alle dieselben Badehosen, die ein lokales Unternehmen gespendet hat, außerdem Pullis und T-Shirts des internationalen Privatinternats Sotogrande auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar, wo ein Schuljahr zwischen 11.000 und 17.000 Euro kostet. In Ceuta leben die Träger der Uniform in aus Sperrmüll gebastelten Hütten. Auf einem Hügel, nicht fern von Sabahs Haus, stehen um die 15 davon im sonnenverbrannten Gestrüpp. Die Bewohner wollen nicht ins System aufgenommen werden, scheinen es aber auch nicht eilig zu haben, illegal aufs spanische Festland weiterzureisen. Sie sagen, sie haben es jetzt schon besser als zuhause, zwischen dem überall verteilten Plastikmüll, durch den nachts die Schlangen rascheln. Sie sind den Ceutís dankbar, die ihnen Essen und Decken geben und helfen, wo immer es geht. So entstand das kleine Hüttendorf, in dem auch Minderjährige leben. Sie sagen, ihre Eltern wissen, dass sie in Spanien sind. Sie haben ihnen den Segen gegeben und viel Glück gewünscht.
„Ich frage meinen Sohn immer noch, wo er war und was er macht und er ist 40“, sagt Sabah, die das alles nicht nachvollziehen kann. Sie beschuldigt die Eltern, die mehr Kinder haben, als sie erziehen können, sie beschuldigt den Staat, der Kinder aufnimmt, aber ihnen dann nichts beibringt. „Sie leben drei Jahre ohne Ausbildung und wenn sie volljährig sind, werden sie in die Welt geschickt. Was sollen die dann machen? Natürlich werden sie kriminell.“ Im letzten Monat haben Sabah und ihre Freunde viele Erfahrungen gesammelt. Es gebe viele gute Kinder, die schon gelernt haben, den Zebrastreifen zu verwenden, Danke und Bitte zu sagen, und die sich über das Essen freuen und dafür auch mithelfen wollen, berichten sie. Aber es gebe auch viele schlechte, sehr viele. Diese wollen Geld, stehen vor den Supermärkten und nutzen die gutmütigen Leute aus. Berichte von Diebstählen gehen um, von Alkohol- und Drogenkonsum.
Manchmal muss das Essen für 200 Menschen reichen.Die spanische rechtsextreme Partei VOX nutzt diese Entwicklung als politische Munition. Die Gesellschaft, welche sich aus Christen, Muslimen, Juden und Hindus zusammensetzt, feiert normalerweise die Feiertage gemeinsam. Das Opferfest, Weihnachten, Ostern, Fastenbrechen. Sabah erzählt, dass sie oft hinten in der Kirche saß und gewartet hat, bis ihre Freundin mit der Messe fertig war. Younes erzählt, dass die Häuser nie verschlossen waren, als er klein war. Jetzt ist das anders.
Sabahs Freundin führt einen Jungen in den Raum, es folgt ein schneller Wortwechsel auf Arabisch. Er trägt keine Schuhe, in der Hand aber einen grünen Plastikbeutel, in dem sich eine Semmel und eine Wasserflasche befinden. „Sowas bricht mir das Herz“, sagt Sabah, delegiert die Aufnahme des Jungen an ihre Gruppe und greift zum Handy. „Ja hallo, ist das die Nationalpolizei? Ja, ich habe hier schon wieder einen Minderjährigen“, sie verlässt den Raum.
Jeden Tag kommen neue Migranten an. Zu Beginn hat Sabah mit ihren Freunden mehrere hundert Leute verpflegt, sagt Younes. Einerseits, um den Migranten zu helfen, andererseits, um die Bevölkerung vor Einbrüchen und Verzweiflungstaten durch die wachsende Frustration der Neuankömmlinge zu schützen. Alle haben geholfen, erinnert sich die Gruppe, die Christen, die Muslime, die Polizei. Die ersten Wochen haben sie kaum geschlafen, waren von elf Uhr morgens bis nachts um zwei im Einsatz und haben dafür ihr eigenes Leben auf Halt gesetzt.
Aber nun hat eine lokale Organisation viel Geld von der Regierung bekommen und die Vertretung der spanischen Nationalregierung sagt Sabah, dass sie die Arbeit dieser überlassen soll. Sie wird es tun, denn sie kann nicht so weiterleben. Schweigen breitet sich am Tisch aus, während die Haushaltshilfe ein leichtes Abendessen aufträgt. Churros, ein spanisches Gericht aus in Fett gebackenen Teigstäben. Dazu gibt es Marmelade und Honig, Vanillekipferl und Kaffee. Alles um 21.30 Uhr. „Ich frage mich, was sie mit dem Geld machen“, sagt Sabah.