WEIT MUSS MAN NICHT FAHREN, bevor nur noch Dünen zu sehen sind: Gleich hinter Nouakchott beginnt sie, die Wüste. Hügel aus Sand, soweit das Auge reicht. Fast zumindest. „Wofür dieser Betonpfeiler hier gedacht ist, weiß ich beim besten Willen nicht“, sagt Victor Ndione. Mit großen Schritten läuft der Priester die Dünen ab, auf denen alle paar Meter der Sand markiert ist. „Aha, dieser ganze Bereich hier soll bebaut werden“, sagt er und schüttelt den Kopf.
Die Wüste frisst sich in die Stadt
Kamele am Rand von Nouakchott
„Ich frage mich: Was soll hier entstehen, ohne Wasser, im Niemandsland?“ Mauretanien besteht zu zwei Dritteln aus Wüste. Das Wasser für Nouakchott kommt per Lastwagen aus dem Senegalfluss, ganz im Süden des Landes. Esel bringen die Kanister in die einzelnen Haushalte der Hauptstadt. Komfortabel ist das nicht. Und doch wächst und wächst die Stadt. Sie frisst sich in die Wüste und zugleich frisst die Wüste alles, was noch nicht Wüste ist.
Drei Millionen Kamele in Mauretanien
Priester Victor NdioneEin kleiner Trupp Kamele pausiert am Straßenrand. Eine ausrangierte Badewanne dient als Wassertrog. Drei Millionen Kamele gibt es im Land, fast so viele wie Mauretanien Einwohner hat. Sie waren im vergangenen Jahrhundert der Reichtum der damals noch großteils nomadisch lebenden Bevölkerung. „Erst die großen Dürren in den 70er und 80er Jahren haben die Menschen in die Städte gebracht“, sagt Victor Ndione.
Seit 1960 islamische Republik
Es ist ein Morgen im Fastenmonat Ramadan. „Gut für uns, die Straßen sind noch leer“, sagt Victor Ndione und drückt aufs Gaspedal. Der Priester stammt aus dem benachbarten Senegal und ist als so genannter Fidei-donum-Geistlicher eine Art Leihgabe des Bischofs von Thiès an den Bischof von Nouakchott. 378 Kilometer trennen Nouakchott vom senegalesischen Thiès – und zugleich Welten: Mauretanien ist seit der Unabhängigkeit 1960 islamische Republik – und damit das einzige Land südlich der Sahara mit einer islamischen Verfassung. Keine andere Religion ist offiziell anerkannt, auch nicht die katholische Kirche. Während es im Nachbarland Senegal sogar innerhalb einer Familie Christen und Muslime geben kann, steht die Apostasie, also der Abfall vom Glauben, hier unter Todesstrafe.
Kirche darf keine Schulen betreiben
Der Kindergarten der Bethanien-Schwestern Die Gläubigen im Bistum Nouakchott sind zu hundert Prozent Ausländer – in einem zu hundert Prozent muslimischen Umfeld. Anders als in anderen Teilen der muslimischen Welt darf die Kirche in Mauretanien auch keine Schulen oder gar Universitäten betreiben. Der Bedarf wäre durchaus da: Ein 25-jähriger Mauretanier blickt im Durchschnitt auf viereinhalb Schuljahre zurück, hat eine Studie aus dem vergangenen Jahr ergeben.
Kindergarten sind gestattet
Aber heute Morgen ist Victor Ndione auf dem Weg zu den Jüngsten: Einen Kindergarten zu betreiben, ist der Kirche nämlich gestattet. Die Aufgabe ruht in den Händen indischer Bethanien-Schwestern. 230 Kinder sind bei ihnen in Betreuung. Ihr Kindergarten gleicht den meisten anderen auf der Welt: An den Wänden hängen gemalte Blumen und Schmetterlinge, in den Spielecken stapeln sich Bastelmaterial und Kuscheltiere.
Arbeit der Ordensschwestern ist sehr geschätzt
„Eines Tages dürfen wir auch eine Schule eröffnen, da bin ich sicher. Die Eltern unserer Kinder schreiben Briefe an die Regierung, um sie darum zu bitten“, sagt Rosewin Joseph, die Ordensschwester und Leiterin der Einrichtung. „Unser Ruf ist hervorragend“, sagt sie. „Die Politiker in Regierungsverantwortung wissen das, denn viele von ihnen haben Kinder oder Enkel hier bei uns.“ Aber nicht nur der Nachwuchs der gehobenen Gesellschaft Nouakchotts findet sich bei den indischen Ordensfrauen ein. „Jedes Kind ist hier einfach ein Kind, ganz unabhängig von seiner Herkunft“, sagt sie. Was nach einer Selbstverständlichkeit klingt, ist es in der streng hierarchisch gegliederten Gesellschaft des westafrikanischen Landes beileibe nicht.
Wo Kinder mit Behinderungen umsorgt werden
Schwester Lucille Habimana NzigireDas gilt besonders auch für die Kinder, um die sich Lucille Habimana Nzigire kümmert. Die Kongolesin gehört zur Ordensgemeinschaft der Weißen Schwestern. Sr. Lucille ist zugleich Physiotherapeutin, ihre Schützlinge hier sind Kinder mit Behinderungen. „Die Familien hier sind mit Kindern mit Behinderungen völlig überfordert. Der Reflex der Großfamilien ist, Mütter mit solchen Kindern zu verstoßen“, sagt sie.
Soeben ist eine junge Mutter eingetroffen. Sie ist das erste Mal hierher gekommen. Ihren kleinen Sohn hält sie in den Armen. Ein Arzt beginnt, den Jungen zu untersuchen, während seine Mutter eine Reihe von Fragen zu beantworten hat: Wie alt ist der Junge? Wann sind die Beeinträchtigungen zum ersten Mal aufgetreten? „In den meisten Fällen warten die Mütter viel zu lange, bis sie zu uns kommen“, erklärt Sr. Lucille. „Die Hebammen vertrösten sie, sagen, dass sich alles von alleine bessern würde. Also verstecken die Frauen ihre Kinder und tun erst einmal nichts.“
Im Innenhof dreht eine Frau beharrlich Runden mit ihrer Tochter, die mit einer Gehhilfe übt. Das Mädchen kommt gut voran. „Diese Erfahrung hätte das Kind zu Hause nie gemacht“, sagt Sr. Lucille. Und auch sie betont, Kinder aus allen familiären Hintergründen seien unterschiedslos beieinander.
Sklaverei erst 1980 abgeschafft - offiziell
Warum wird das immer wieder ins Feld geführt? Mauretanien hat 1980 als letztes Land der Welt die Sklaverei verboten.
Erst 2007 wurde dieses Verbot nochmals bekräftigt und mit einem Strafregister versehen, um es endlich durchzusetzen. Ein Aspekt der mauretanischen Geschichte, der nach wie vor eine unrühmliche Rolle spielt.
Unterschied zwischen „weißen“ und „schwarzen“ Mauren
Die Caritas organisiert BerufsausbildungenEtwa 70 Prozent der 4,5 Millionen Mauretanier sprechen Hassaniya, eine Form des Arabischen. Die Hälfte von ihnen sind „Bidhan“, also „weiße Mauren“. Die übrigen Hassaniya-Sprecher gelten als „schwarze Mauren“ oder „Haratin“, ein Begriff, der sich in etwa mit „die, die freigelassen wurden“ übersetzen lässt. Die übrigen 30 Prozent gehören zu Ethnien wie den Wolof, Tukulor oder Fulbe.
Eine gewichtige Streitfrage ist, welche Gruppe nun wirklich wie viele Menschen umfasst, da von dieser Frage auch Machtverhältnisse abhängen. Die 30 Prozent der Wolof und anderen Ethnien appellieren an die Haratin, sich aufgrund der gemeinsamen dunkleren Hautfarbe zusammenzuschließen und für ihre Rechte zu kämpfen.
Haratin schwer benachteiligt
Anwalt Mohamed MaatallaDie „weißen Mauren“, die in vielen Fällen die politische und wirtschaftliche Elite bilden, sehen sich wiederum als mit den Haratin zusammengehörig aufgrund der arabisch-nomadischen Prägung. Zwischen ihnen bestehen aber teils immer noch Abhängigkeitsverhältnisse, die für die Haratin kaum erträglich sind.
Einer, der diese Realität aus eigener Erfahrung kennt, ist Mohamed Maatalla. Er ist Anwalt und leitet innerhalb der Caritas-Struktur des Bistums den Einsatz für Rechte der Gefängnisinsassen in Mauretanien. Er selbst gehört zur Gruppe der Haratin. „Ich bin als Haratin in meiner Position die absolute Ausnahme“, sagt er. „Unsere Gesellschaft ändert sich. Aber sie ändert sich sehr langsam.“
Das Bild Mauretaniens im Ausland sei geprägt von den hellhäutigen Mauren, kritisiert er. „Das entspricht nicht der Realität hier und zementiert die Verhältnisse“, sagt er.
Gastarbeiter und Flüchtlinge
Aber es gibt noch eine Gruppe, die zwar da, aber nicht wirklich anerkannt ist: Die Menschen aus Senegal, Togo, Guinea, Elfenbeinküste und den anderen afrikanischen Ländern, die in Mauretanien arbeiten. Oder auf ihre Chance warten, von der streng überwachten mauretanischen Küste aus über das Meer die Kanarischen Inseln zu erreichen.
Auch die Kirche versucht, sie von der lebensgefährlichen Fahrt abzubringen. In Nouadhibou, dem Küstenort, von dem aus immer wieder Menschen ihr Leben in die Hände von Schleppern legen, zeigen die indischen Bethanien-Schwestern einen Ausweg: Ihr Ausbildungszentrum bietet den Migranten eine Alternative. Sr. Alisha Rose kümmert sich dort um die Gestrandeten: „Ein Drittel macht die Ausbildung und bleibt hier in Mauretanien. Ein weiteres Drittel kehrt mit dem Zertifikat in der Tasche in das jeweilige Herkunftsland zurück. Aber das letzte Drittel vertraut sein Schicksal trotz allem den Schleppern an.“
Vom Mann verlassen und ohne Ersparnisse
Den Gedanken, die Überfahrt nach Europa zu wagen, hatte auch Aisha schon einige Male. Heute ist die junge Frau, die aus der Umgebung der senegalesischen Hauptstadt Dakar stammt, ins Beratungszentrum hier in Nouakchott gekommen. Gemeinsam mit anderen Frauen wartet sie vor dem kleinen Büro. Als sie an der Reihe ist, schildert sie ihre Lage: Fast vierzehn Jahre sei sie über die Runden gekommen. Jetzt habe sie ihr Mann verlassen. Das bisschen Ersparte sei inzwischen aufgebraucht. „Es wird einfach alles zu viel“, sagt sie. „Ich schaffe es nicht.“
Die Schwestern beraten sich kurz. Dann geben sie ihr Nahrungsmittel und die Miete für einen Monat mit auf den Weg. Und winken die nächste Frau herein.