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15. November 2021
Interview:   Nicole Lamers
Interview mit Susan Arndt

"Sprache ist die Speerspitze des Rassismus"

Koloniale Spuren in der Sprache und struktureller Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft sind eng miteinander verbunden - davon ist die Linguistin Susan Arndt überzeugt. Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten mit dem Thema Rassismus. missio-Autorin Nicole Lamers hat nachgefragt.
15. November 2021
Text: Nicole Lamers   privat

Frau Arndt, Sie sagen, dass die deutsche Sprache noch heute vergiftet sei mit den Spuren der Kolonialzeit...

Es gibt viele Begriffe in der deutschen Sprache, die ihre Ursprünge in Kolonialismus und Sklaverei haben und rassistisch sind – denn Sprache war und ist die ideologische Speerspitze des Rassismus. Im Kolonialismus wurden Begriffe gesucht, um Menschen das Menschsein abzusprechen. Das sollte legitimieren, ihnen ihre Länder und Ressourcen zu rauben. In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurde dann zwar teilweise über Sprache reflektiert, aber nicht über koloniale Sprache. Das hat bis heute kaum stattgefunden.

Über welche kolonial belasteten Wörter stolpern Sie regelmäßig?

Dass Begriffe wie das N- oder das M-Wort rassistisch sind, müsste eigentlich überall angekommen sein – und trotzdem werden sie noch verwendet, oft sogar lauthals verteidigt. Manchmal nur in Zitaten, aber auch dort finde ich das problematisch, denn die Gewaltwirkung ist selbst in Zitaten da. Was mir auch sehr häufig begegnet: „dunkelhäutige Menschen“. Die meisten glauben, dass das nichts mit Rassismus zu tun hat. Ich würde ganz klar sagen: doch. Rassismus hat ‚Rassen‘ erfunden, um Menschen zu kartieren, mit Weißen als der überlegenen ‚Rasse‘. Die ‚Hautfarbe’ war dabei die wichtigste Koordinate, aber eigentlich gibt es die nicht. Ich bin nicht weiß und wenn ich jetzt ein weißes Blatt hinter mein Gesicht halten würde, wäre das völlig offensichtlich. ‚Hautfarben‘ sind ebenso eine Erfindung des Rassismus wie ‚Rassen‘.

Koloniales Erbe in der deutschen Sprache

Die Einteilung von Menschen nach ihrer Hautfarbe ist also ein koloniales Erbe?

Ja, absolut. Weil der Rassismus uns über viele Jahrhunderte beigebracht hat, ‚Hautfarben‘ zu sehen, sehen wir sie.

Wie steht es mit anderen Begriffen, wie etwa „Eingeborene“ oder „Häuptling“?

So sollten kolonisierte Gesellschaften als jenseits von ‚Zivilisation‘ und Moderne verortet werden. Daraus folgte, nicht wie in Europa von König oder Bürgermeister zu sprechen, sondern mit dem H-Wort abzuwerten. Das E-Wort enthält den Gedanken, dass die Kolonisierten nicht Teil der westlichen Kultur, sondern (rohe) Natur seien. So konnten sie auch keine rechtmäßigen Eigentümer ihrer Territorien sein. Die Unterstellung dabei war: Das sind keine Menschen, also können sie auch keine staatlichen Strukturen aufgebaut haben. Solche Begriffe stammen aus dem Kolonialismus.

Sie fordern eine „Dekolonisierung“ der Sprache. Aber Sprache zu verändern ist sicher nicht einfach ...

Stimmt. Aber es ist vor allem deswegen nicht einfach, weil in Deutschland die ‚weiße‘ Mehrheitsgesellschaft gar keinen Handlungsbedarf sieht. Es wird zu wenig darüber gesprochen. Ich beschäftige mich jetzt seit fast 30 Jahren damit und habe das Gefühl, dass die gesamtgesellschaftliche Diskussion kaum vorankommt. Da würde ich mir mehr Klarheit wünschen, auch von der Bundesregierung – durch eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Kolonialismus. So könnte man klare Richtlinien für Schulen, Universitäten und Medien herausgeben – und bildungspolitische Angebote machen.

Das heißt, die Diskussion müsste grundsätzlich systematischer geführt werden?

Genau. Rassismus ist ein strukturelles Problem, das auf Institutionen und langen Wissenstradierungen basiert. In Deutschland werden alle da hineinsozialisiert. ‚Weiße‘ wie ich im Besonderen, so dass sie das Gefühl haben, es gäbe gar keinen Rassismus. Hier muss das Bewusstsein erwachen, dass es strukturellen Rassismus gibt. Hier gibt es aber auch eine individuelle Verantwortung: Je mehr Einzelpersonen aufbegehren und widersprechen, umso stärker werden sich gesellschaftliche Strukturen verschieben.

George Floyd: Rassistische Sprache rückt in den Fokus

Ist es also nötig, sich viel mehr Gedanken über die eigene Sprache zu machen?

Ganz wichtig ist, es nicht dabei zu belassen, rassistische Wörter nur zu meiden. Ich muss versuchen zu verstehen, was für Denkzusammenhänge dahinterstecken. Nur so kann Rassismus begriffen werden. Mittlerweile gibt es so viel gute Literatur dazu. Es ist für mich viel eher so, dass die Leute sich weigern, sich dieses Wissen anzueignen, als dass dieses Wissen nicht abrufbar wäre.

Einzelne Wörter sind bereits weitgehend aus der Sprache verbannt worden. Mit Erfolg?

Wir sind längst noch nicht weit genug, sowohl was die Breite der Begriffe als auch was die Breite der Gesellschaft angeht. Aber ich bin da wirklich sehr optimistisch und habe das Gefühl, dass der Mord an George Floyd im letzten Jahr das Fass ein weiteres Mal zum Überlaufen brachte. Seither wird hierzulande durchgängig und konsequent rassistische Sprache diskutiert. Und immer mehr Begriffe werden eingeschlossen.

Es wird diskutiert, das Wort „Rasse” aus dem Grundgesetz zu streichen. Gegner sagen, dass man das Phänomen des Rassismus ohne diesen Begriff gar nicht erfassen könne ...

Rassismus muss benannt werden und auch, dass er ‚Rassen‘ erfand, um Menschen zu klassifizieren, was sich bis heute in sozialen Positionen äußert. Aber es muss verneint werden, dass es biologische ‚Rassen‘ gibt. Das Problem am 1949 formulierten Grundgesetz ist, dass es diese Idee noch transportiert. „Menschen dürfen nicht rassistisch diskriminiert werden,“ ist daher eine viel klarere Ansage. Sie macht klar: Rassismus gibt es, aber keine biologischen ‚Rassen‘.

USA als Vorreiter der Sprachdebatte um Rassismus

Wo steht die Sprachdebatte in anderen Ländern mit kolonialer Vergangenheit?

In den USA ist sie definitiv weiter. Deswegen kommen wohl Begriffe wie PoC („People of Color“) oder BIPoC („Black, Indigenous and People of Color“) aus dem Englischen. In Europa gibt es die Debatte überall, aber besonders in Frankreich ist sie keinen Millimeter weiter als in Deutschland. Auch in Großbritannien ist sie eher leise. In Portugal, Spanien, Frankreich und Großbritannien gibt es kaum Museen, die Kolonialismus aufarbeiten. Entschuldigungen für Genozide und Sklaverei stehen aus, ebenso wie Reparationszahlungen. Dagegen sträubt sich ganz Europa.

Wie reagieren Sie persönlich, wenn jemand einen rassistischen Begriff verwendet?

Ich spreche es mittlerweile fast immer an. Dabei habe ich mir angeeignet, immer zu sagen: „Das ist rassistisch, weil ...“ und mache die Erfahrung, dass – das ist heute viel besser als in den 90ern – die Leute auch innehalten. Nicht immer beim ersten Mal, aber mir reicht schon, wenn es heißt: „Nehm’ ich mal mit, informiere ich mich mal, denk’ ich mal nach“. Ich finde es sehr wichtig, dass ‚weiße’ Personen das in ‚weißen‘ Kreisen ansprechen. Das ist kein Job, den BIPoC alleine machen sollten. Die machen den sowieso jeden Tag. Dabei liegt die Verantwortung für Rassismus doch bei den ‚Weißen‘.

ZUR PERSON: Susan Arndt ist Professorin für englische Literatur an der Universität Bayreuth. Zuvor forschte und lehrte sie unter anderem an der Humboldt Universität zu Berlin, am St. Antony’s College in Oxford und der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Ihre Forschungen beschäftigen sich mit westafrikanischer Frauenliteratur, Kritischer Weißseinsforschung und britischer Literatur sowie mit Sexismus, Diskriminierung, Feminismus und Rassismus. Dazu hat Susan Arndt bereits mehrere Bücher verfasst, unter anderem „Rassismus: Die 101 wichtigsten Fragen“ (C.H. Beck) und „Wie Rassismus aus Wörtern spricht“ (UNRAST Verlag). Jüngst bei C.H.Beck erschienen ist „Rassismus begreifen – Geschichte und Gegenwart“.

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