Luise Amtsberg, Menschenrechtsbeauftrage der Bundesregierung, hat die Schirmherrschaft für "Vergessene Krisen" übernommen.Sie waren vor kurzem im Libanon - was waren Ihre Eindrücke vor Ort, gerade auch im Vergleich zu früher, etwa 2015/2016?
Ich habe das Land nicht wiedererkannt. Ich wusste, dass es dem Libanon nicht gut geht. Dass die Unterschiede zu von vor 7 Jahren jedoch so eklatant sind, hätte ich nicht erwartet. Bereits 2015/16 war die soziale Lage nicht einfach. Es war eine enorme Herausforderung für den Libanon, durch die Aufnahme von syrischen Geflüchteten fast ein Viertel seiner Bevölkerung hinzuzubekommen. Man hat, das gehört zur Wahrheit dazu, Libanon erst dann wirksam unterstützt als sich immer mehr syrische Geflüchtete aufgrund der mangelhaften Versorgungslage auf den Weg nach Europa gemacht haben.
Wie ist die Lage heute?
Das Land steht am Rand eines Kollapses; man kann sogar sagen, es kollabiert vor unseren Augen. Es gibt extreme Misswirtschaft und staatliche Korruption. Die Währung hat in kürzester Zeit 95% ihres Wertes verloren. Die Menschen haben keinen Zugang mehr zu ihrem Ersparten. Stromausfälle dominieren den Alltag. Über 70% der Menschen leben in Ernährungsunsicherheit und wäre auf externe Hilfe angewiesen, zum Beispiel des Welternährungsprogramms. Die medizinische Versorgung ist mehr als mangelhaft, Richter streiken und seit Beginn des Jahres sind die staatlichen Schulen geschlossen. Hinzu kommt das politische Vakuum: Seit November 2022 regiert die alte Regierung im Übergang, weil es dem neuen Parlament nicht gelingt, sich auf einen neuen Präsidenten zu einigen. Dass es weiterhin keine ernstzunehmende Aufklärung bezogen auf die Hafen-Explosion, die Beirut als Stadt massiv traumatisiert hat, gibt, führt zu noch mehr Unzufriedenheit. Den Libanon als „vergessene Krise“ zu beschreiben, ist daher vollkommen richtig.
So leben jetzt nicht nur syrische Geflüchtete in Armut, sondern auch die heimische Bevölkerung.
Ganz genau. Wenn die Mehrheit der Menschen im Libanon nicht mehr in der Lage ist, mehr als ein Bett in einer kalten Wohnung ohne Fenster und ohne Essen zu haben und sie nur überleben, weil es das World Food Programme und die internationale Unterstützung gibt, kommt es logischerweise zu Spannungen. Von der politischen Ebene werden zunehmend die syrischen Geflüchteten für alles verantwortlich gemacht, dabei liegen die Ursachen für die multiplen Krisen im staatlichen Handeln selbst.
Welche Lösungen sehen Sie?
Es ist nicht einfach, in einem Land, in dem so viel Misswirtschaft und Korruption herrscht, aktiv zu sein. Deutschland unterstützt die Menschen im Libanon deshalb vor allem durch die humanitären Organisationen und NGOs vor Ort. Was sehr wichtig ist, gerade bei Krisen, die nicht so im Fokus stehen: Man muss eine verlässliche Finanzierung erreichen. Und da sehen ich im Libanon einen weiteren erschwerenden Umstand: Die Golfstaaten, die sehr aktiv waren, vor allem Saudi-Arabien, ziehen ihre humanitäre Hilfe aufgrund der Misswirtschaft zunehmend ab. Wir sollten also in den Dialog mit den Golfstaaten gehen und versuchen, diese wieder an Bord zu holen. Außerdem müssen wir die vielfältigen Krisen im Libanon auch auf die Agenda des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen heben.
Könnten mehr Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren?
Wir hören diese Forderung immer wieder aus Regierungskreisen. Dort sagt man, dass die internationale Unterstützung von syrischen Geflüchteten im Libanon der Grund dafür sei, dass so wenige Menschen nach Syrien zurückkehren. Das ist natürlich eine zynische Argumentation. Wenn man mit syrischen Geflüchteten spricht, erfährt man, dass von Rückkehrbereitschaft keine Rede sein kann. Viele haben in ihrer Heimat schlimmste Verbrechen erlebt, viele Angehörige verloren, manche von ihnen kennen ihr Herkunftsland quasi nur aus Erzählungen. Dem Versuch, aus Eigeninteresse die Situation in Syrien schönzureden und somit die Beziehungen zu Assad zu normalisieren, sollten wir uns klar entgegenstellen.
Wie kann man diese und andere vergessenen Krisen stärker in den Fokus rücken?
Ich finde, man sollte sich zunächst fragen, warum es Krisen nicht ins öffentliche Bewusstsein schaffen. Häufig ist das der Fall, wenn kein unmittelbarer Zusammenhang zu uns oder unserem Handeln gesehen wird. Dabei lohnt es sich genau hinzusehen. Zum Beispiel die Klimakrise und ihre Auswirkungen auf Länder wie Südsudan. Oder Bangladesch und die Bekleidungsindustrie. Man muss sich in westlichen Industrienationen die Frage stellen: Wie hoch ist der Preis unseres Wohlstandes? Auf wessen Kosten geht er? Schadet unser Konsumverhalten anderen auf der Welt?
Was antworten Sie?
Ich würde sagen: ja. Und daraus ergibt sich eine Art Verursacher- und Verantwortungsprinzip. Zu dieser Verantwortung gehört auch, sich selbst zu fragen, was wir verbessern können. Ein gutes Beispiel ist das Lieferkettengesetz. Dieses hat das Potential, dass wir durch klare Regeln in Deutschland Missständen andernorts begegnen. Diese Zusammenhänge herzustellen, sind die Grundlage dafür, vergessenen Krisen in den Fokus zu rücken.
Wird nicht zur Zeit alles dominiert von den beiden großen Krisen Russland/ Ukraine und dem Erdbeben in der Türkei und Syrien?
Natürlich nehmen akute Notlagen wie ein Erdbeben oder Kriege viel Raum ein, auch was die humanitäre Hilfe angeht. Das ist auch vollkommen richtig so. Aber es entsteht natürlich ein eklatanter Widerspruch, wenn Deutschland als mittlerweile zweitgrößter humanitärer Geber, der mehr Verantwortung in der Welt übernehmen möchte, gleichzeitig bei steigenden Krisen und Konflikten die Mittel für die humanitäre Hilfe, die Menschenrechtsarbeit oder langfristige Projekte kürzt. In dieser sehr harten politischen Auseinandersetzung befinden wir uns jährlich in den Haushaltsverhandlungen. Als Beauftragte kann ich nur immer wieder darauf hinweisen, wie wichtig der Einsatz zur Linderung schlimmer Krisen in dieser Zeit ist. Nicht zuletzt um das Internationale System zu stärken und zu erhalten.
Vor kurzem wurde das Konzept der „Feministischen Außenpolitik“ vorgestellt. Ist es nicht gerade am wenigsten „feministisch“, zugleich Waffen an die Ukraine zu liefern?
Ich weiß gar nicht, woher die Annahme kommt, dass Feminismus automatisch gleichzusetzen ist mit Pazifismus. Wenn ein Land angegriffen wird, muss es das Recht haben, sich zu verteidigen, gerade auch, um Frauen und Kinder und marginalisierte Gruppen zu schützen. Ich will es nicht banalisieren: Das Liefern von Abwehrwaffen ist dafür da, sich gegen den Angreifer zu verteidigen. Die Alternative wäre, dass eine gesamte Nation unterjocht und gewaltsam niedergeschlagen wird. Wir sehen bereits jetzt, was das gerade für Frauen und Kinder bedeutet. Ich will unterstreichen: Es macht einen Unterschied, ob man Waffen an ein Land liefert, das sich gegen einen brutalen Angriff zur Wehr setzt oder aus wirtschaftlichen Gründen an ein autokratisch geführtes Land.
Zu wenig öffentlich diskutiert wird auch der militärische Einsatz der Bundeswehr in Mali. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin keine Mali-Expertin und möchte das daher an dieser Stelle nicht umfassend bewerten. Aber grundsätzlich halte ich es für richtig, dabei zu unterstützen, Gesellschaften zu stabilisieren. In Mali verfolgen wir dabei einen integrierten Ansatz aus Stabilisierung, humanitärer Hilfe, Diplomatie- und Klimaprojekten und der Entwicklungszusammenarbeit. Dabei kann es Sinn machen, solches mit einer Friedensmission zu begleiten. Im Moment ist geplant, die Mission noch einmal um ein Jahr zu verlängern und dann 2024 abzuschließen.
In Mali bewegt uns das Schicksal des deutschen Missionars Ha-Jo Lohre, der vermutlich entführt wurde. Was wissen Sie über seinen Verbleib und welche Schritte unternimmt das Auswärtige Amt zu seiner Freilassung?
Leider können wir zu Einzelfällen von Entführungen deutscher Staatsangehöriger öffentlich nichts sagen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass der Fall bei uns bekannt ist und mit der entsprechenden Priorität behandelt wird.
Wie wichtig ist Ihnen die Zusammenarbeit mit Organisationen und Hilfswerken?
Für mich ist die Zusammenarbeit selbstverständlich und unverzichtbar. Ohne Zivilgesellschaft könnten wir unsere Arbeit gar nicht machen. Sie sind die Praktiker vor Ort. Sie wissen am besten, was gebraucht wird, was funktioniert und was nicht. Deutschlands Zivilgesellschaft ist sehr aktiv und vielfältig, auch im Ausland, im Einsatz. Mit vielen haben wir eine enge Partnerschaft in Projekten. Ich bin überzeugt, dass das Know-how dieser Akteure am Ende auch die Regierungspolitik besser macht. „Vergessene Krisen“ - diese Kampagne finde ich besonders wertvoll, weil sie einen auch dazu bewegt, aus der Komfortzone herauszukommen. Nicht nur die naheliegenden Dinge zu vermitteln, sondern auch mal die Nischen zu beleuchten. Und auch dafür sind Organisationen und Hilfswerke unerlässlich.
Vielleicht ist Deutschland überhaupt nicht mehr als wichtig in der Welt gesehen – beim Thema Fußball-WM in Katar versuchte man zum Beispiel, die Menschenrechtslage zu kritisieren. Wir wurden aber oft nur als Schulmeister und Besserwisser verspottet.
Deutschland wird dann zu Recht angegriffen, wenn es den Eindruck erweckt mit zweierlei Maß zu messen. Katar habe ich auch scharf kritisiert, aber ich habe immer auch gesagt: Es sind Verbesserungen eingetreten vor Ort. Katar ist ein Land, das verglichen mit anderen Ländern in der Region deutliche Fortschritte gemacht hat. Da hat sich der internationale Druck gelohnt. Aber natürlich sagen die Kataris - und ich finde, nicht ganz zu Unrecht: „Wir sind ein Gastarbeiterland. Ihr aber auch. Ihr kritisiert uns, dass wir die Wanderarbeiterkonvention nicht umsetzen. Ihr habt sie aber auch nicht ratifiziert!“ Wann werden wir als Lehrmeister wahrgenommen? Wenn wir Ansprüche stellen, die wir selber nicht erfüllen.
Also sind wir noch ein ernst zu nehmender Partner?
Wir werden international schon als sehr prinzipientreu wahrgenommen. Wir haben einen Wertekompass, für den wir uns einsetzen. Das internationale Recht und das humanitäre System ist es, was wir schützen wollen. Wir nehmen sehr wohl wahr, dass Russland und China und auch andere Akteure versuchen, die internationale Gemeinschaft zu spalten. Diejenigen, die das internationale Recht verteidigen und diejenigen, die weder andere kritisieren, noch sich selbst kritisieren lassen, beispielsweise für Menschenrechtsverletzungen. In diesem Spannungsfeld auf der internationalen Ebene bewegen wir uns derzeit. Umso wichtiger ist es, ehrlich und auf Augenhöhe um Verbündete zu werben.