Frau Ratzmann, welches Pazifik-Klischee ist am schlimmsten?
Ich glaube, die gängigen Pazifik-Klischees sind über Bilder entstanden und ganz früher über Erzählungen. Schon aus dem 18. Jahrhundert kennen wir Reiseberichte, zum Beispiel von Louis Antoine de Bougainville oder von Jean-Jacques Rousseau. Das Beispiel des „edlen Wilden“ ist weiter zementiert worden, als in den 1980er und 90er-Jahren die Werbung in Reisekatalogen aufkam für diese „exotische Inselwelt“. Da hat man auf den Bildern immer barbusige, Hula tanzende Mädchen am Strand gesehen, weil sich das die Leute in ihren Köpfen vorgestellt haben: „So muss es dort sein im Pazifik. So muss das wahre Paradies aussehen.“
Tatsächlich gibt es dort wunderbare Strände und fröhliche Menschen.
Aber das ist nur ein Abglanz oder ein Zerrbild dessen, was es im Pazifik eigentlich gibt. Das ist ja keine andere Welt, als wir sie haben. Sie ist vielleicht anders gestrickt, was die Kulturen und die Umwelt angeht, und sieht „von außen“ anders aus als in Europa. Aber Müllentsorgung, Klimawandelfolgen, Überbevölkerung, Rassismus – alle Probleme, die wir im Westen kennen, gibt es dort auch.
Woher kommen Probleme wie die weitverbreitete Gewalt zwischen Clans und besonders gegen Frauen?
Gewalt gegen Frauen ist ein Problem in allen melanesischen Gesellschaften, wie Neuguinea, Vanuatu, Fidschi, Neukaledonien. Das hat überwiegend damit zu tun, dass Land und Güter über die männliche Linie vererbt werden. Daran entzünden sich viele Streitigkeiten zwischen den Gruppen. Die Männer sind die Hüter des Landes und damit auch Herrscher über die Ressourcen, die es dort gibt, ob Holz oder Mineralien. Sie entscheiden darüber, was mit dem Land geschieht.
Und die Frauen?
Sie sind dafür da, das Land zu bestellen, also die Nahrungsmittel heranzuschaffen und die Kinder zu betreuen. Sie haben eigentlich gar keine Mitsprache an dem, was mit ihrem Land passiert. Vor dem Einfluss der westlichen Welt gab es gar keine anderen Rollenbilder für Frauen. Man hat das als gegeben hingenommen. Aber inzwischen sind die Leute im Pazifik genauso weltweit vernetzt über Internet, moderne Medien, Fernsehen. Frauen haben vor allem über die Medien wahrgenommen, dass es auch andere Lebensmodelle für sie gibt. Sie lassen sich das „Kinder, Kirche, Küche“-Klischee zu Recht nicht mehr gefallen, sondern versuchen, aus den traditionellen Rollen auszubrechen.
Mit welchen Folgen?
Das führt zu brisanten innerfamiliären Konflikten. Auch Clanstreitigkeiten entscheiden oder entzünden sich eigentlich immer an der Frage von Landrechten und Machtverhältnissen. Wer kann die Ressourcen auf diesem Land ausbeuten? Wollen wir sie an internationale Konzerne verkaufen, oder wollen wir das Land für uns behalten? Auf selbstbewusste Frauen, die eine solide Ausbildung haben und für ihren Lebensunterhalt sorgen können, reagieren einige Männer mit Gewalt. Sie sehen in diesen starken Frauen eine Konkurrenz.
Wie bewerten Sie das Engagement der Bundesregierung im Pazifik?
Es ist gut, dass es jetzt wieder einen deutschen Botschafter in der Region gibt, in Fidschi. Und es gibt jede Menge Entwicklungshilfeprojekte. Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass das nur eine Art Feigenblatt ist des deutschen Engagements in der Region, und dass man sich gerne inszeniert als die Retter der Welt. Natürlich ist es toll, wenn Annalena Baerbock barfuß an einem paradiesischen Strand steht und sagt: „Wir schützen diesen Strand mit deutschen Geldern.“
Aber?
Das deutsche Engagement hat zugenommen, ganz klar. Im gleichen Zuge hat die Entwicklungshilfe aber abgenommen. Die Gelder, die Entwicklungshilfeorganisationen zur Verfügung gestellt werden, sind rückgängig - auch in den Haushaltsplanungen der Bundesregierung. Die Rüstungsausgaben hingegen steigen.
Welche Hintergründe gibt es?
Ich glaube, man benutzt den Pazifik ein bisschen als Einfallsportal, um Einfluss zu nehmen auf den Kampf um die Vorherrschaft zwischen China und den USA. Das ist das eigentlich brisante Thema. China organisiert sich Inseln als Stützpunkte, indem es Militäranlagen baut, oder nutzt diese Inseln für Flottenmanöver. Auf der anderen Seite greifen die USA auf den Pazifik zu und erfolgen ebenfalls geostrategische Interessen. Und ich glaube, Deutschland will hier den Anschluss nicht verlieren und bietet sich als Gesprächspartner an. Aber ein wahres Interesse an den Völkern, an den rund 12 Millionen Menschen, die im Pazifik leben? Da weiß ich nicht, ob die deutsche Regierung das wirklich hat.
Was steht auf dem Spiel?
Der Pazifik ist total interessant, wenn man zum Beispiel in Richtung Korea blickt. Man weiß nicht genau, wie viele Atomwaffen es dort gibt? Werden die eingesetzt in Südkorea? Dann ist es natürlich clever, wenn man nahe dran ist an diesen Ländern. Indien, Pakistan ist auch so eine Frage. Was für ein Interesse haben diese beiden an der Region? Es gibt im Pazifik riesige Ressourcen, die noch nicht ausgebeutet worden sind. In Neukaledonien, das ja als Überseeterritorium zu Frankreich gehört, gibt es die drittgrößten Nickelvorkommen der Welt. Da hat Frankreich den Zugriff als Kolonialmacht. Auch China ist ganz groß im Geschäft, was Minen in Papua-Neuguinea angeht.
Wie steht es um die Insel Bougainville mit der Mine von Panguna? Laut Referendum soll die Insel ein unabhängiger Staat werden.
Noch sieht es nicht danach aus, obwohl das Referendum absolut eindeutig war. Ich glaube, dass das „Mutterland“ Papua-Neuguinea kein wirtschaftliches Interesse hat, Bougainville in die Unabhängigkeit zu entlassen. Zwar ist die Panguna-Mine seit Jahrzehnten geschlossen, aber es gibt Berechnungen, wie viele Rohstoffe da noch gefördert werden könnten. Bougainville liegt auch geostrategisch sehr günstig, nahe an den Salomonen. Ich sehe nicht, dass Bougainville in den nächsten Jahren unabhängig werden könnte. Allein deshalb, weil diese Insel sich gar nicht selber tragen könnte ohne die Mine.
Welche Rolle spielt das christliche Erbe heute im Pazifik?
Die Menschen dort sind unheimlich zugewandt und finden es auch gut, dass das Christentum kam, weil es sie befreit hat aus ihrer Angst vor „bösen“ Ahnen. Sie haben in der Ankunft des Evangeliums tatsächlich immer eine „frohe Botschaft“ gesehen. Man hört kaum kritische Stimmen nach dem Motto „Ihr habt uns alles kaputt gemacht“ oder „ihr habt uns missioniert“. Man wird als allererstes in Neuguinea immer gefragt: „Zu welcher Kirche gehörst du?“ Innerhalb von fünf Minuten fragen die Leute: „Bist du Lutheraner, oder bist du Katholik?“ Und dann kommt man ins Gespräch. In Deutschland würde man beim Small Talk auf einer Party fragen: „Und was machst du beruflich?“ Niemals: „Warst du heute schon im Gottesdienst?“