Herr Erzbischof, Sie waren gerade in Kenia. Was ist Ihnen von dieser Reise im Gedächtnis geblieben?
Ich denke besonders an die geflüchteten Menschen, denen ich begegnen konnte, an die Schutzsuchenden. Dabei ist mir als Wichtigstes haften geblieben, wie erleichtert diese Menschen sind, dort in Kenia in einigermaßen sicheren Verhältnissen leben zu können. Ich sehe noch einen Mann in Nairobi vor mir, der mir gegenübersaß und der ein T-Shirt trug mit der Aufschrift „Never give up“ – „Gib niemals auf“. Das schien er nicht nur übergezogen zu haben, sondern es war auch sein Lebensmotto. Das finde ich beeindruckend, wenn Menschen sich nicht hängen lassen, sondern mit anderen zusammen ihr eigenes Leben in die Hand nehmen.
Sie waren auch im Flüchtlingslager Kakuma. Was haben Sie dort erlebt?
Kakuma ist noch mal ein paar Stunden von Nairobi entfernt. Das sind ganz andere Verhältnisse, die Gegend ist arm, die Temperaturen sind hoch. Wie der Name sagt: Das liegt im Nirgendwo. Und dabei sprechen wir jetzt von über 300 000 geflüchteten Menschen. Sie leben unter einfachsten Bedingungen in verschiedenen Camps. Wenn man sich vorstellt, dass diese Menschen dankbar sind, dass sie dort leben können, dann kann man sich ausmalen, aus welchen Verhältnissen sie kommen. Die sind also noch mal schlimmer. Es ist bewegend, was da alles von kirchlicher Seite getan wird. Ich denke zum Beispiel an die Schulen des Jesuiten Flüchtlingsdiensts, die ich besuchen konnte. Oder an einen Ort namens „Safe Haven“: ein „sicherer Hafen“ für Frauen und Kinder mit Gewalterfahrungen und Traumata, darunter auch Betroffene von sexuellem Missbrauch.
Viele Hilfen werden von den Kirchen ermöglicht und von Hilfswerken wie missio gefördert. Wie wichtig ist das?
Es ist unverzichtbar, dass unsere Hilfswerke dort präsent sind. Ich nehme aus Kenia und ganz Ostafrika einen großen Dank der Menschen mit, dass die Kirche in Deutschland sie nicht aus dem Blick verliert, sondern tatkräftig unterstützt. Das war bei den verschiedenen Begegnungen ganz deutlich zu spüren. Wir sind zum Beispiel bei einem Projekt der Caritas Nairobi im Armenviertel Githurai gewesen, das von missio München unterstützt wird. Wir haben dort sowohl mit Geflüchteten als auch mit Einheimischen gesprochen. Das Bewegendste ist immer, wenn die Menschen ihr Lebenszeugnis geben, wenn sie berichten, wo sie herkommen, wie ihr Weg verlaufen ist und wie sie jetzt leben können. Und da ist die Kirche für sie wirklich oft Heimat und ein Ort der Stabilisierung.
Sie waren vor Ort, als Nairobi erschüttert wurde von einem furchtbaren Hochwasser.
Die Flut begegnete uns ständig. Wir haben es offenbar mit zwei klimainduzierten Phänomenen in Ostafrika zu tun: einerseits diese sich häufenden Überschwemmungen und andererseits aber auch lange Zeiten großer Dürre. Teils hat es seit Jahren nicht mehr geregnet, dann wiederum kommt die Flut. In Lodwar zum Beispiel, in der Turkana-Region im Norden, waren wir mit einer Gruppe von Binnenflüchtlingen zusammen, die wegen der Fluten ihr Zuhause verloren haben und jetzt in ganz einfachen Zelten ohne jede Infrastruktur leben. Eine Frau hat mir erzählt, dass sie schon mehrere Male ihre Habseligkeiten verloren hat, und dass sie an ihrem angestammten Ort nicht mehr bleiben konnte. Bei den Geflüchteten sind es eben auch besonders Frauen und Kinder, die unter diesen Klimaveränderungen stark zu leiden haben.
Was brauchen die Menschen jetzt?
Es geht um ganz elementare Basics. Ernährung und Wasser sind ein Riesenthema. Es geht um Gesundheitsversorgung, um Bildung, um Berufsausbildung. Damit überhaupt ein menschliches Leben möglich ist.
Schnell kommt heute der Vorwurf: Bei uns gab es auch ein Hochwasser. Warum kümmert ihr euch nicht um diese Menschen zuerst?
Zunächst einmal muss man die Not jedes einzelnen Menschen ernst nehmen. Und ich würde immer sagen: Man darf nie eine Not gegen eine andere Not ausspielen. Wir müssen versuchen, Hilfe da zu geben, wo wir können. Und wichtig ist, dass wir hier bei uns die anderen Teile der Welt nicht aus dem Blick verlieren, besonders die Regionen, in denen Krieg und Terror herrschen, in denen die Krisenphänomene noch viel stärker sind und der Lebensstandard ein ganz anderer ist als bei uns. Jeder Mensch in Not verdient Hilfe und Unterstützung.
Wie sollte die EU mit dem Thema Flucht und Migration umgehen?
Mir ist in Kenia aufgefallen, dass die kenianische Gesellschaft sehr gastfreundlich und aufnahmebereit ist. Migration wird in erster Linie als Normalität, nicht als Problem gesehen. Ich bin dort ganz vielen Geflüchteten aus dem Südsudan, aus Somalia, aus der Demokratischen Republik Kongo, aus Burundi und Ruanda begegnet, die von der Situation in ihren Ländern berichteten. Wir wissen, dass weltweit die Zahl der Geflüchteten stetig zunimmt. Das Thema Flucht, Vertreibung, Migration wird ein ganz zentraler Marker unserer Gegenwart bleiben. Und wir müssen damit rechnen, dass auch Klimaveränderungen zu einem stärkeren Treiber für Migration werden. Deswegen sind wir gut beraten, die Augen nicht vor den Problemen zu verschließen, sondern gemeinsam Lösungen zu finden. Dafür brauchen wir zum Beispiel faire Abkommen zwischen Europa und Afrika oder konkret zwischen Deutschland und Kenia. Was die Rolle der Kirche betrifft: Ich bin dankbar für die gute Zusammenarbeit zwischen der Kirche in Deutschland und in Afrika.
Eine Idee könnte eine Migrationspartnerschaft zwischen Europa und Kenia sein, so ähnlich wie das Großbritannien mit Ruanda versucht hat.
Da bin ich skeptisch. Ich bin während der Reise auch Geflüchteten aus Ruanda begegnet. Das sind Menschen, die wegen der krisenhaften Phänomene geflohen sind, vor allem wegen politischer Verfolgung. Wenn man Staaten wie Ruanda als sicheren Drittstaat definieren möchte, begibt man sich auf einen Holzweg, der uns nicht weiterbringen wird. Wir müssen versuchen, einen Beitrag für den Frieden zu leisten, und alles tun, damit Menschen sicher leben können und im besten Fall gar nicht erst gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen.
Nach der Europawahl bleibt das Gefühl, dass das Thema Flucht und Migration den ganzen Kontinent spaltet.
Wenn es einen Weg für eine Lösung gibt, dann liegt der nur im Miteinander. Und das scheint mir im kenianischen Kontext auf relativ guten Boden zu fallen, weil es da doch eine gewisse Offenheit gegenüber den Anderen gibt. Ein solidarisches Miteinander ist auch der Weg hier in Europa, so schwer er ist. In einer offenen, pluralen Welt müssen wir stärker auf Integration setzen, auf interkulturellen und letztlich auch auf interreligiösen Dialog, auf ein Miteinander und nicht auf ein Gegeneinander oder auf das Hochziehen von Mauern und Abschottung. Das wird uns nicht weiterführen.