Joyce Mensah hat den "Haushaltsunfall" mit schweren Verbrennungen überlebBEIM FENSTERPUTZEN tödlich verunglückt. Gäbe es eine Statistik, würde sie davon wohl angeführt. Ein „tragischer Haushaltsunfall“, wie er im Libanon häufig geschieht. Denn jede Woche stirbt dort Menschenrechtsorganisationen zufolge mindestens eine ausländische Haushaltshilfe eines nicht natürlichen Todes. Die Dunkelziffer wird weit höher geschätzt. Aber diese Frauen sind keine Ziffern. Sie sind so verzweifelt, dass sie lieber aus dem fünften Stock springen, als zu bleiben. Manche werden von ihren Dienstherren oder „Madams“ umgebracht, wie Aktivisten in Foren berichten. Das Ende von oft jahrelanger Ausbeutung und Gewalt.
Joyce Mensah* hat den „Haushaltsunfall“ mit schweren Verbrennungen überlebt. Von der Schulter bis zur Brust der jungen Frau aus Ghana nässt das wunde Fleisch. Tagsüber verschafft eine Salbe Linderung. In der Nacht versucht Joyce, reglos dazuliegen. Weil Joyce das Essen nicht so zubereitete, wie es ihrer „Madam“ vorschwebte, verbrühte diese sie mit dem heißen Wasser aus dem Reiskocher. Joyce rannte davon, blind vor Schmerzen. Seit wenigen Tagen ist sie nun im Caritas-Schutzhaus für Frauen, dem „Olive Shelter“, an einem nicht genannten Ort in Beirut. Hier kann sie zur Ruhe kommen, wird liebevoll betreut und medizinisch versorgt.
7 Millionen Einwohner – 250.000 Arbeitsmigrantinnen
Die derzeit 52 Frauen im „Olive Shelter“ sind nicht alleine. Nach Angaben des libanesischen Arbeitsministeriums leben und arbeiten im Libanon mit seinen sieben Millionen Einwohnern rund 250 000 Arbeitsmigrantinnen. Menschenrechtsorganisationen gehen darüber hinaus von mehr als 200 000 weiteren nicht gemeldeten Arbeitsverhältnissen aus. Die meisten dieser Frauen werden in Äthiopien angeworben, viele stammen aus Nepal, Bangladesch und Sri Lanka oder aus westafrikanischen Ländern.
Joyce Mensah ahnte nicht, was auf sie zukommen sollte, als der Vertreter einer Agentur eines Tages in ihrem Dorf in Ghana auftauchte. Was sie wusste: Die Armut war groß, die Zukunft aussichtslos. Im Libanon warte ein sicherer Job, so das Versprechen, bezahlt in US-Dollar. Wieviel besser könnte ihr Leben und das ihrer Familie werden! Das Schulgeld für die beiden Kinder wäre gesichert! Doch Joyce sollte ein jahrelanges Martyrium durchleiden. Vier Jahre später sitzt die schwer misshandelte Frau einer Sozialarbeiterin gegenüber. Sie schämt sich: „Ich war eine Sklavin“, erzählt sie stockend. „Meine Madam schloss mich in der Toilette ein.“ Immer wieder habe sie nachgefragt, doch Geld habe sie selten gesehen. „Ich habe es nicht geschafft“, sagt sie leise. „Ich will nach Hause!“ Einen Satz, den Hessen Sayah Corban oft hört. Seit mehr als zwei Jahrzehnten kümmert sie sich bei der Caritas im Libanon um Menschen mit Migrationshintergrund, um Geflüchtete und seit ein paar Jahren um die vielen Arbeitsmigrantinnen im Land.
#endkafala – für sichere und gerechte Arbeitsbedingungen im Libanon
An manchen Tagen kann die Äthiopische Botschaft in Beirut die Anfragen nicht mehr bewältigen.Einen Termin bei der 43-Jährigen zu bekommen, ist nicht einfach. Als Leiterin des Schutzbereichs ist sie viel unterwegs. Sie bespricht sich mit ihren Teams in den Schutzhäusern, hält Kontakt zu Anwälten, verhandelt mit Behörden, trifft Botschafter und Politiker und diskutiert mit an Runden Tischen. Darüber hinaus ist sie Sprachrohr der inzwischen vielen Aktivistinnen, die sich dafür einsetzen, dass Arbeitsmigrantinnen im Libanon endlich sichere und gerechte Arbeitsbedingungen erwarten. #endkafala, #endkafalanow, #sendushome – die Hashtags der Community in den sozialen Netzwerken sind endlos. Der Kampf, Kafala abzuschaffen, ebenso.
Hessen Sayah sitzt in ihrem schlichten Büro, das Handy immer im Blick. An der Wand hinter ihr prangt ein Bibelzitat: „Ich war ein Fremder und ihr habt mich aufgenommen“. Matthäus 25, 35. Eins nimmt sie gleich vorweg: „Die verheerende wirtschaftliche Lage des Libanon hat die Situation für Arbeitsmigrantinnen weiter verschärft.“ Man sei schon dabei gewesen, eine Krankenversicherung durch zubekommen. „Aber in einem Land, das zahlungsunfähig ist und keine Regierung hat, stehen Menschenrechtsthemen nicht im Fokus. Und was wir schon erreicht haben, wird nicht kontrolliert.“
Das Team um Hessen Sayah lässt sich davon nicht entmutigen. Wie auch: Die tägliche Not der Frauen trägt alle gemeinsam weiter. Inzwischen hat der Caritas-Schutzbereich eine Hotline gestartet, die rund um die Uhr besetzt ist. Auch am Flughafen setzen die Ideen an: Erste Trainings für Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde haben stattgefunden. Das soll helfen, mögliche Opfer früh zu erkennen und den zwielichtigen Agenturen das Handwerk zu erschweren.
Gehalten als Leibeigene
Sozialarbeiterin Betty Bereket versteht die Not. Vor mehr als 20 Jahren ist sie selbst hier gestrandet.Im „Olive Shelter“ hat Betty heute Dienst. Vor mehr als 20 Jahren ist sie selbst in diesem Haus gestrandet, das sich hinter einem hohen Eingangstor verbirgt. Als Equbit Bereket, eine junge Frau aus Äthiopien. Inzwischen hat sie die Führungsrolle in einem Team, das aus Sozialarbeiterinnen, ausgebildeten Ehemaligen sowie Psychologinnen besteht. „Das Ziel der meisten Frauen ist die Heimreise. Ich bin damals geblieben. Das hier ist nicht nur ein Job für mich, es ist eine Mission.“ Betty versteht die Not der Frauen – denn vieles davon hat sie selbst erlitten. Heute hört sie Lemlem Birhanu zu, einer Landsfrau. Zögerlich sucht die junge Frau Worte für das Unaussprechliche. Als man sie vor wenigen Wochen in den Straßen von Beirut fand, war sie apathisch. Zwei kleine Jungen, vier und zwei Jahre alt, klammerten sich an sie. Beinahe zehn Jahre Elend hatten alles in einen Nebel gehüllt.
Jetzt sitzt Lemlem auf ihrem einfachen Bett im Schlafsaal. Im Krankenhaus wurde der geschundene Körper gesund gepflegt. Die Seele braucht Zeit. Beruhigungsmittel helfen fürs erste, besonders über die Nacht. Lemlem freut sich, dass Betty ihre Sprache versteht. Und in dieser beweint sie ihren einst so großen Traum, der zum Alptraum wurde: Jahre verbrachte sie in einem Haushalt – ohne einen freien Tag. Gehalt bekam sie monatelang nicht ausbezahlt. Ihre Mahlzeiten waren rationiert. Menschlicher Abfall, schimpfte sie der Dienstherr. Nach einigen Jahren gelang ihr die Flucht, ohne Papiere. Ein Mann nutzte ihre Notlage aus. Er hielt sie als Leibeigene. Lemlem durfte das Haus nicht verlassen. Zwei Jungen kamen in der Wohnung zur Welt.
Für Lemlem Birhanu ist der Rückweg in die Heimat zu ihren beiden Kindern versperrt. Eine Mutter mit zwei weiteren Kindern, aus einem anderen Kulturkreis und ohne Vater! Die Dorfgemeinschaft würde sie nicht akzeptieren. Lemlem wird, sobald es ihr besser geht, an Trainings und Angeboten im Haus teilnehmen, die ihr dabei helfen sollen, eine Integration in die libanesische Gesellschaft zu versuchen. Mit hoffentlich neuen Papieren und einer offiziellen Arbeitserlaubnis, was im besten Fall einige Monate, oft jedoch ein Jahr oder länger dauern kann.
Geschützter Raum für Kinder von Müttern aus 17 Nationen
Mariam mit ihrer Mutter Hanna Wondimu aus Äthiopien sind froh, dass es im Schutzhaus eine gute Schule gibt.Hanna Wondimu hat all das schon geschafft. Sie ist eine der sogenannten „Outsider“. Mit Hilfe mehrerer unabhängiger Putzstellen kann sie sich über Wasser halten und sogar ein Zimmer leisten. Zweimal die Woche hilft sie der gebrechlichen Mutter einer Sozialarbeiterin im Haushalt. Einmal im Monat unterstützt eine Essensbox mit dem Nötigsten, mit Reis, Milch, Öl und Nudeln. Heute kommt Hanna gegen Mittag im Schutzhaus vorbei, um ihre siebenjährige Tochter Mariam vom Unterricht abzuholen. Ein weiteres Angebot der Caritas: 130 Kinder zwischen drei und sechs Jahren besuchen die kleine Schule im ersten Stock des Gebäudes. Ein geschützter Raum für die Kinder dieser Mütter aus derzeit 17 Nationen und schwierigen Verhältnissen. Viele der Mädchen und Jungen haben keinen offiziellen Status, sind also illegal. Außerhalb des Schutzhauses gäbe es für sie keine Möglichkeit auf Bildung. Hanna bezahlt 20 Dollar pro Jahr für die Schule, das kann sie sich leisten. Mariam bekommt dafür täglich ein warmes Essen.
Hanna ist einfach nur froh, wie sie versichert: „Das Schutzhaus ist ein guter Ort. Wie eine Familie. Für Mariam und mich funktioniert es gut. Und ich kann endlich Geld nach Hause schicken!“ Denn in der Heimat Äthiopien wartet eine fast erwachsene Tochter, die Hanna mit zwölf Jahren entbunden hat. Ab und zu sieht die Mutter ihre fremde Tochter auf dem Display eines verwackelten Videocalls. Was mit den gesendeten Dollars geschieht? Hanna Wondrimu weiß es nicht. Sie hofft auf eine gute Zukunft für ihre Tochter in Äthiopien. Lemlem Birhanu wird ihre Zukunft im Libanon finden müssen.
*manche Namen sind zum Schutz der Frauen geändert.