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20. August 2023
Reportage:   Kristina Balbach   Fotos: Friedrich Stark
Reportage aus Syrien

Anker für eine verlorene Generation

Zwölf Jahre Krieg prägen den Alltag der Menschen, die in Syrien geblieben sind. Millionen Kinder haben noch nie Frieden erlebt. Gute Schulbildung gibt es kaum. Eine Generation fürchtet um ihre Zukunft, die auch die Zukunft Syriens bedeutet. Die Salesianer Don Boscos in Damaskus sind für diese Mädchen und Jungen der Anker.
20. August 2023
Text: Kristina Balbach   Fotos: Friedrich Stark

13.000 Kinder und Jugendliche wurden im Syrienkrieg getötet. Mindestens, so schätzen die Vereinten Nationen. Katia Sioufi hat überlebt. An manchen Tagen haben wohl nur Sekunden darüber entschieden, ob sie oder ein anderer auf dem Bürgersteig vor dem Schultor leblos liegen bleiben sollte. Bilder, die die heute 23-Jährige für immer mit sich tragen wird. Bilder eines Krieges, der ihre Heimat, ihr Leben und ihre Zukunft für immer verändert hat.

Katia war elf Jahre alt, als der Krieg begann. Er hat ihr die Freunde genommen. Die Familie ist zumindest äußerlich heil geblieben – Vater Elias, Mutter Violet, der jüngere Bruder Georges. Die ältere Schwester Maria hat Syrien schon lange verlassen und ist mit ihrem Mann in Ungarn gestrandet. Ihre kleine Nichte wird Katia viele Jahre nur per Handy sehen können.

Schule in Kriegszeiten

Immerhin: Katia gehörte nie zu den inzwischen rund zwei Millionen Kindern in Syrien, die seit Jahren keinen Unterricht besuchen. Die nicht lernen dürfen, weil ihre Schulen zerstört wurden, weil ihre Lehrerinnen geflüchtet sind oder weil die Armut es nötig macht, arbeiten zu gehen. Katias Viertel Jaramana, ein krisengeschüttelter Vorort südöstlich des alten Damaszener Stadtkerns, war zwar jahrelang hart umkämpft, aber die Schule blieb trotz Granateneinschlägen und Bombenhagel stehen. Manchmal kamen am Morgen sogar Lehrer. Zuhause wartete tagsüber nur selten jemand. Die Eltern mussten auch in den Kriegswirren versuchen, Geld für die Familie zu beschaffen.

Wo immer jemand wartete in diesen Jahren, das war im Kinder- und Jugendzentrum der Salesianer Don Boscos. Das kleine Team aus einer Handvoll Ordensleuten blieb und ließ die Tore bewusst geöffnet – selbst in Zeiten, in denen die Schüsse Tag und Nacht zu hören waren und viele fürchteten, ihre Häuser zu verlassen. Bis heute sucht Katia, die inzwischen Informationstechnologie-Kurse an der Universität in Damaskus besucht, mehrmals die Woche das helle Gebäude in einer ruhigen Straße im zentrumsnahen Al-Salheya-Viertel auf. Nebenan leiten Salesianerinnen einen Kindergarten, vom Minarett gegenüber ruft der Muezzin die muslimischen Nachbarn zum Gebet. Hier im Zentrum trifft Katia ihre Freundinnen und Freunde, hier können sie zusammen Spaß haben, Musik hören, Sport machen, Gitarre oder Theater spielen, über Gott und die Welt reden – und immer jemanden finden, der zuhört, wenn die Sorgen wieder einmal zu groß werden. Herzstück des Zentrums ist die Kapelle. Ein Ort der Ruhe und ein Ort, an dem regelmäßig Gottesdienst gefeiert wird.

„Unser Zentrum ist ein Schutzraum“

Jede Woche machen sich 1200 Kinder und junge Menschen zwischen acht und 25 Jahren aus den sozialen Brennpunkten von Damaskus auf den Weg ins Zentrum mit dem großen Innenhof. Die meisten wohnen im dichtbesiedelten Jaramana. Sie kommen aus christlichen Familien, aus orthodoxen, maronitischen und katholischen – einer in Syrien inzwischen verschwindend kleinen Minderheit. „Unser Zentrum ist ein Schutzraum“, erklärt Miguel Ángel Condo Soto. Der aus Bolivien stammende 33-jährige Salesianerpater kennt die Nöte und das Leid der syrischen Familien gut. Er leistet schon seit vielen Jahren seinen Dienst an der Seite der Menschen im Nahen Osten. „Die Menschen in Syrien haben mehr als zehn Jahre Krieg hinter sich. Sie leiden und machen doch jeden Tag irgendwie weiter. Es mangelt an allem. Viele haben kaum die Möglichkeit, sich ihr tägliches Brot zu verdienen. Die Preise für Lebensmittel sind hoch, Benzin ist teuer. Bei uns können die Kinder und Jugendlichen für ein paar Stunden die Sorgen des Alltags hinter sich lassen und sich stärken.“ Um alle nach ihrem Schulvormittag sicher her- und wieder nach Hause bringen zu können, hat die Ordensgemeinschaft Busse angemietet.

Aus einem dieser bunten Busse steigt Katia Sioufi am Abend in Jaramana aus. In den staubigen Straßen ist viel los. Links und rechts der engen Gassen ziehen sich illegale Rohbauten in den Himmel, die sich gefährlich schräg zur Mitte neigen. Früher, als Jaramana noch eine eigene kleine Stadt war, lebten hier überwiegend Christen und Drusen, eine eigenständige arabische Religionsgemeinschaft.

Am Stadtrand beginnen die Slums

Heute ist Jaramana Zufluchtsort unzähliger palästinensischer Familien und irakischer Geflüchteter. Am Stadtrand beginnen die Slums, wo Kinder die Müllberge am Straßenrand durchforsten. Katia ist auf dem Nachhauseweg. „In Jaramana kann ich mich nicht so frei kleiden“, sagt sie. Anders als in Babtouma, dem historischen Stadtkern, wo sie geboren wurde. Aber die Mieten dort sind unbezahlbar geworden für eine Familie wie die Sioufis. Im obersten Geschoss eines Rohbaus warten Katias Eltern. Drei Zimmer, eine Küche, eine Toilette. Der Beistelltisch wird verräumt, hinter dem Schrank der Klapp-Esstisch hervorgezogen. Mutter Violet serviert Reis – heute mit ein wenig Hühnchenfleisch, für das sie viel Geld bezahlen musste. Eine besondere Geste für den Besuch aus Deutschland und eine Essenseinladung, die Mut erfordert in einem Land, in dem man besser nicht alles offen bespricht. Die 51-Jährige erzählt: „Was wir verdienen reicht kaum mehr zum Leben. Vor dem Krieg konnten wir Katia auf eine private Schule schicken. Wir können unsere Kinder nicht mehr so unterstützen, wie wir das eigentlich möchten.“ Später kommt der 19-jährige Georges nach Hause. Er hat Arbeit gefunden in einem kleinen Schmuckladen. Zum Studieren würde das Geld kaum reichen. Auf dem Sofa bereitet er sich sein Bett, wie jeden Abend.

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Katia will an ihrem Studium festhalten. Das schafft sie auch mit Hilfe der Salesianer, die inzwischen mit finanzieller Unterstützung aus dem Ausland ein kleines Haus in Jaramana angemietet haben. In den Räumen dieses Don-Bosco-Außen­postens wird nun täglich Nachhilfe angeboten – für so viele Kinder im Viertel, wie möglich: Mathe, Arabisch, Englisch, Physik, was eben ansteht. Für viele von ihnen ist es der einzige hochwertige Unterricht am Tag. Als Lehrer sind die „Ehemaligen“ im Einsatz, Studierende wie Katia, die sich dadurch etwas Geld für ihre Familie verdienen können. So schließt sich ein gut durchdachter Kreis.

Wenig Strom, keine Heizung

Darüber hinaus kommt Katia selbst gerne zum Lernen hierher. Zuhause gibt es kaum Strom und im Winter keine Heizung. „Wer friert, der kann nicht gut lernen“, sagt Leen Abou Sekka, noch eine einstige Don-Bosco-Jugendliche, die heute das Haus in Jaramana leitet. Bis zu 250 Kinder kommen regelmäßig. Erst um 22 Uhr löscht Leen das Licht. „Wir könnten uns um noch so viel mehr Kinder und Jugendliche kümmern. Die regulären Schulen in Syrien haben kein gutes Niveau. Außerdem geht es vielen Mädchen und Jungen nicht gut. Sie haben schlimme Dinge erlebt. Einige stottern, manche sind gewalttätig, andere ziehen sich komplett zurück. Der Krieg wirkt nach bis heute.“ Leen wünscht sich mehr Platz, ein größeres Team. Aber es fehlt am Geld. Trotzdem gibt das Team täglich eine kleine Mahlzeit aus. Nichts Warmes, meistens Sandwiches, was sich gerade günstig organisieren lässt. Einen Dollar pro Jahr verlangt das Zentrum als symbolischen Beitrag von den Familien. „Die Mütter und Väter müssen schauen, wie sie Geld verdienen“, weiß Leen. „Dadurch können viele nicht für ihre Kinder da sein. Wir balancieren das aus.“ Am anderen Tag zurück im Zentrum. Auch hier wird heute wieder ausbalanciert. An der Grundschule nebenan fällt der Unterricht aus, wie so oft. Es ist gute Tradition, dass die Kinder den Hof der Salesianer zum Spielen nutzen dürfen. Es gibt nicht viele gute Orte für Kinder in Damaskus. „Die Kirche leistet in Syrien täglich soziale und humanitäre Hilfe“, sagt P. Dany Kerio, Direktor der Salesianer-Gemeinschaft in Damaskus. „Aber wir brauchen irgendwann eine Perspektive.“

Kerio wünscht sich, dass die internationale Isolation Syriens und die wirtschaftlichen Sanktionen aufgehoben werden. Andere Forderungen kann er nicht stellen, will er weiter seine Arbeit in diesem Land tun. Vielleicht sei das Erdbeben der Anfang von Syriens Wiederauferstehung gewesen, sagt Kerio zynisch. „Wir wollen, dass die junge Generation ihre Träume wieder hier verwirklichen kann.“ Damit Syrien kein verlorenes Land bleibt.

Christen in Syrien
Der Krieg in Syrien hat etwa die Hälfte der Bewohner (rund 13 Mio. von mehr als 20 Mio.) vertrieben – davon hat wiederum die Hälfte das Land verlassen. Die meisten Geflüchteten sind in den Nachbarstaaten Libanon, Türkei und Jordanien untergekommen. Die andere Hälfte lebt als Geflüchtete im eigenen Land. Der Krieg hat nicht nur Menschenleben gekostet, er hat Syrien auch finanziell ruiniert. Laut UN sind heute mehr als 15 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, mehr als zwölf Millionen Menschen gelten als vom Hunger bedroht. Die Kämpfe und Konflikte haben die Abwanderung der christlichen Minderheit in Syrien weiter beschleunigt. Heute nehmen die Christen nur noch rund drei Prozent der Bevölkerung ein. Die Ordensgemeinschaft der Salesianer Don Boscos steht weltweit an der Seite benachteiligter junger Menschen. In Syrien sind sie neben Damaskus in Kafroun und Aleppo tätig. P. Miguel Condo Soto wird im Monat der Weltmission zu Gast in Deutschland sein. Erfahren Sie mehr unter: www.weltmissionssonntag.de.

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