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10. August 2023
Reportage:   Christian Selbherr   Fotos: Friedrich Stark
Reportage aus Ägypten

Wo liegt hier die Freiheit? Unterwegs mit einem Gefängnisseelsorger

Die Herrschaft der Muslimbrüder ist lange vorbei, und Ägypten gilt als friedlich und stabil. Die Lage der christlichen Minderheit hat sich deutlich verbessert. Doch jede Kritik an der Regierung wird hart bestraft, die Gefängnisse sind überfüllt. Ist alles nur eine kurze Atempause?
10. August 2023
Text: Christian Selbherr   Fotos: Friedrich Stark

Gezittert haben sie, alle beide. Und er selbst wahrscheinlich auch. Es war ja das erste Mal, dass Abouna Bakhoum (Foto oben) mit zwei Gefangenen zusammenkam, die zum Tode verurteilt waren. „Da habe ich gemerkt, welche schwierige Situ­ation das für einen Menschen ist.“ Abouna Bakhoum ist koptisch-katholischer Priester in Ägypten. Als einer der wenigen Menschen, die nicht zur Polizei oder zur Regierung gehören, hat er Zugang zu einigen von Ägyptens großen Gefängnissen. 

Seelsorger für Gefangene

Als Gefängnisseelsorger steht er christlichen Häftlingen und ihren Familien bei. Zwar wird Ägypten international kritisiert, weil rechtsstaatliche Prinzipien kaum eingehalten werden – worauf jedoch geachtet wird: Dass alle Gefangenen geistlichen Beistand bekommen können und Räume zum Gebet vorhanden sind – für Muslime und für Christen. „Wir können zwei Mal im Monat hinein“, berichtet Abouna Bakhoum. Zusammen mit einigen Freiwilligen leistet er auch ganz praktische Hilfe: Sie überbringen Nachrichten von Ehefrauen, Eltern, Kindern – und bringen Lebenszeichen nach draußen. Sie organisieren Medikamente und andere wichtige Dinge. Im schlimmsten Fall müssen sie manchmal sogar die traurige Neuigkeit übermitteln, dass eine Hinrichtung vollstreckt worden ist. Die Familien erfahren meist erst hinterher davon, sie können sich nicht verabschieden, erhalten nur die Mitteilung der Behörden: „Sie können sich den Leichnam abholen und ihn bestatten lassen.“

Gefängnis Wadi El Natroon nördlich von Kairo

Diese kirchliche Arbeit bewegt sich auf schwierigem Terrain. Ägypten zählt weltweit zu den Staaten mit den meisten vollstreckten Todesurteilen. Terroristen und Schwerkriminelle gehören zu den Verurteilten. Doch für eine Inhaftierung genügt es oft schon, zur falschen Zeit bei einer Kundgebung der politischen Opposition zu sein, oder sich irgendwo kritisch gegen die Regierung zu äußern. Entsprechend hält sich auch ein Priester wie Abouna Bakhoum genau an alle Vorgaben. Keine Bewertung der politischen Lage. Keine Auskünfte zu Haftbedingungen oder sonstigen Umständen innerhalb der Gefängnisse. Manche Anlagen, wie Wadi Natroun, sind neu entstanden, sie heißen jetzt „Besserungsanstalt“ und sind – wohl wegen des internationalen Scheinwerferlichtes – besser ausgestattet als ältere Einrichtungen. Von denen gibt es allerdings noch immer genug, manche liegen irgendwo in der Wüste, und was dort geschieht, bleibt weitgehend im Verborgenen. 

Draußen bei den Menschen

Priester Fr. Pious Samer Farag (l.) mit Friedhofswächter MounirDer Dienst für Gefangene und ihre Familien ist ein Teil der sozialen Arbeit, die die koptisch-katholische Kirche in Ägypten leistet. Mit einigen Hunderttausend Gläubigen ist sie eine Minderheit im mehrheitlich muslimischen Land. Auch die koptisch-orthodoxen Christengemeinden sind im Vergleich zu den Katholiken deutlich größer. Pious Farag, Priester der Diözese Gizeh, sagt: „Wir leben unseren Glauben nicht nur in der Kirche, sondern auch draußen, also dort, wo die Menschen sind.“

Er ist Leiter der Entwicklungsprogramme in Gizeh und den Regionen Fayoum und Beni Suef, ein großes Gebiet, das von Kairo entlang des Nils bis fast nach Oberägypten und in die Wüste hinein reicht. Die Kirche kümmert sich um Kinder mit Behinderung, egal, ob die Eltern Christen oder Muslime sind. Christliche Schulen genießen einen exzellenten Ruf im ganzen Land. Kirchliche Krankenhäuser waren die ersten, die während der Corona-Krise Kranke betreuten und Impfstoffe verteilten. Pious Farag sagt: „Alle Probleme, die unser Land hat, betreffen uns ja alle gleichermaßen, egal ob Christen oder Muslime. Wir müssen unsere gesamte Gesellschaft voranbringen, nicht nur die Christen. Das ist unsere Pflicht.“

Christen leben sicherer als früher

Vorbei sind die Zeiten, in denen christliche Kirchen heimlich entstehen mussten als versteckte Gebetsräume in Kuhställen oder in Hochhäusern. Heutzutage dürfen in Ägypten nicht nur Moscheen sondern auch christliche Kirchen ganz offiziell gebaut werden. Zum Beispiel in den neuen Satellitenstädten rund um Kairo: In der „6th of October City“ und der „New Administrative Capital“ (der zukünftigen Verwaltungshauptstadt) wurden den Christen kostenlose Grundstücke zugeteilt, auf denen sie ihre Gotteshäuser errichten können. Der Schrecken der Islamisten von der Muslimbruderschaft ist erst einmal verflogen. Aber das war noch vor wenigen Jahren anders. „In der Vergangenheit hatten wir große Probleme durch den Terrorismus. Er richtete sich gezielt gegen uns Christen“, sagt Thomas Adly Zaky, der koptisch-katholische Bischof von Gizeh. „Viele Kirchen wurden angegriffen. Das war wie in anderen Ländern des Nahen Ostens, mit dem Islamischen Staat.“

Schreckliche Zeiten waren das! Zum Beispiel im August 2013 – als eine aufgehetzte Menschenmenge durch die Straßen der Stadt Beni Suef zog. Videoaufnahmen zeigen, wie Häuser geplündert und in Brand gesetzt werden. Junge Männer lachen feixend in die Kamera. Unter den Gebäuden: Die Schule der Franziskanerinnen, mehr als 100 Jahre alt, vielleicht die beste Schule in der Stadt. Sie wurde fast völlig zerstört. Die Täter gehörten zu den Muslimbrüdern.

Muslime verstecken Christen vor Islamisten

„Ihr könnt unsere Häuser zerstören. Aber wir bauen sie immer wieder auf. Das ist unsere Mission“, betont Pious Farag, der Priester aus Gizeh, der als Kind selbst in Beni Suef zur Schule ging. Heute trifft er Schwester Elen Youssef, die die Schule inzwischen leitet. Sie wurde tatsächlich wiederaufgebaut.

„Unsere Mitschwestern haben damals knapp überlebt“, sagt Sr. Elen Youssef. Sie selbst war damals noch nicht hier – aber sie kennt die Erzählungen der Überlebenden. Kurz vor dem Angriff schwirrten Gerüchte durch die Stadt. Eilig liefen einige Angestellte zu den Schwestern und warnten sie: „Die Islamisten kommen!“ Sie waren selbst Muslime, doch für sie gab es kein langes Überlegen: Wir retten die Christen. „Zwei Tage haben sie unsere Schwestern bei sich zu Hause versteckt.“ Dann war das Schlimmste vorüber, sie hatten überlebt. Schnell entschieden sie sich zum Wiederaufbau.  Es half, dass ein einflussreicher General hier selbst einmal zur Schule gegangen war. Er setzte sich ein und beschleunigte die Formalitäten. Gute Kontakte zur Regierung schaden nicht. Dass es dafür den Preis eingeschränkter Freiheiten gibt, ist den meisten Christen sehr bewusst. Aber welche Alternative gibt es?

Franziskanerschule wieder aufgebaut

Franziskanerschule in ÄgyptenJetzt können sie stolz ihr neues Schulgebäude vorweisen. Kinder aus christlichen und muslimischen Familien teilen sich die Schulbänke. Es gibt muslimische Lehrerinnen genauso wie christliche. „Die Regierung hat das Problem des Terrorismus in den Griff bekommen, bis auf wenige Ausnahmen“, sagt Bischof Thomas Adly. „Heute können wir uns sehr sicher fühlen.“ Das heiß nicht, dass auf die neu polierte Fassade keine Schatten fallen. „Ja, kommen Sie mit“, sagt eine Mitschwester der Direktorin auf die Frage, ob denn in der Franziskanerschule noch Spuren der Zerstörung zu sehen seien. „Gehen wir in die Kapelle!“ Der Tabernakel am Altar erschien den Angreifern damals als lohnende Beute. „Sie dachten, das wäre eine Art Tresor, und sie glaubten, es wäre Geld darin versteckt.“ Als sie nichts fanden, ließen sie ihn zurück. Die Schwester öffnet einen Fensterflügel in der Kapelle. Das Fenster führt nirgendwohin, es ist von hinten zugemauert. Wie ein kleiner Schrein. Ein paar angekohlte Bibeln und Gesangsbücher sind darin, dazu eine Ikonendarstellung: Christus blickt den Betrachter an. Sein Gesicht ist durchbohrt – vielleicht von einer Kugel, die die islamistischen Angreifer abgefeuert haben? Zehn Jahre sind seit den schrecklichen Tagen vergangen. Verglichen mit damals geht es ihnen heute gut.

Am Ende des Rundgangs kommt man noch an zwei Bildern vorbei. Das größere prangt in der Eingangshalle. Das kleinere ist erst auf den zweiten Blick im Büro der Schulleitung zu sehen. Das große Bild zeigt den mächtigen Staatspräsidenten Sisi. Das kleinere Bild ist ein Portrait von Papst Franziskus. Aber egal wie groß – beide sind da.

ÄGYPTEN AUF DER SUCHE NACH FRIEDEN UND SICHERHEIT

Von den Muslimbrüdern zu General Sisi: Im Zuge des Arabischen Frühlings wurde der langjährige Machthaber Mubarak gestürzt. Bei den folgenden Wahlen 2011/2012 gewann der Kandidat der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, das Rennen um die Präsidentschaft. Für die religiösen Minderheiten folgten schwierige Zeiten, immer wieder kam es zu Übergriffen auf christliche Einrichtungen wie Kirchen und Schulen. Im Juli 2013 setzte das Militär unter Generaloberst Abd al-Fattah as-Sisi die Muslimbrüder ab. Sisi wurde 2014 Präsident. Es folgte eine Phase der Stabilisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs, der sich auch in großen Bauprojekten zeigt. Nahe Kairo entsteht eine neue Hauptstadt, die New Administrative Capital.

Deutsche Bahnen für Ägypten: 
Ägypten versucht, sich auf der internationalen Bühne als verlässlicher Partner anzubieten. Mit Europa gibt es viele Beziehungen, besonders zu Deutschland, wie das Beispiel Eisenbahnbau zeigt. Die Deutsche Bahn und der Siemens-Konzern bekamen den Auftrag, die ägyptischen Bahnstrecken zu modernisieren. Das 8,1 Milliarden-Euro-Projekt wurde von Kairo bewusst nach Deutschland gegeben, nicht an Mitbewerber wie etwa China. Die Modernisierung der Transportwege ist dringend nötig, denn die 20-Millionen-Stadt Kairo erstickt im Autoverkehr und hat bisher nur drei U-Bahn-Linien. Die neuen Verbindungen sollen den Ost- und West-Teil des Landes verbinden, und auch von Kairo bis nach Assuan und Hurghada am Roten Meer führen.

Schwierige politische Lage: 
International erfährt die ägyptische Regierung viel Kritik wegen der schwierigen Menschenrechtslage. Oppositionelle Gruppen werden unterdrückt, viele Menschen sind ohne Gerichtsurteil inhaftiert. Freie Meinungsäußerung ist nur sehr eingeschränkt möglich, auch internationale  Organisationen  wagen kaum, öffentlich Kritik zu üben. Die Mehrheit der Ägypter scheint derzeit hinter der Regierung zu stehen, sie nehmen Einschränkungen in Kauf, so lange die Sicherheit gewährleistet ist und der Lebensunterhalt nicht zu teuer wird. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Brot und Reis sind jedoch deutlich gestiegen, auch Benzin sei kaum mehr zu bezahlen, klagen viele.

Bei missio zu Gast: 
Im Monat der Weltmission werden Thomas Adly Zaky, der koptisch-katholische Bischof von Gizeh, sowie Abouna Pious Farag, Leiter des Entwicklungsbüros von Gizeh, in Deutschland zu Gast sein. Sie werden über die Lage der Christen und über die Arbeit der Kirche an der Seite der Menschen berichten. Filme über Ägypten gibt es im Youtube-Kanal von missio München. Informationen sind abrufbar auf 

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