Warten, nur auf was? Die Perspektiven für die Bewohner des Rainbow-Camps sind düster.RAINBOW – REGENBOGEN. Ein klingender Name für ein Stadtviertel. Makler preisen die Häuser der dort neu gebauten Wohnanlage im Internet an: „Ideale Wahl für Familien mit Kindern“. Gute Schulen gleich um die Ecke. Auch ein Park, um die „wunderschöne Flora und Fauna zu genießen.“ Rainbow, so heißt auch das größte Geflüchteten-Camp der Hauptstadt Port Moresby. Es liegt nur wenige Straßen entfernt, am Rand der Siedlung, auf Brachland. Eine Schule besuchen dort längst nicht alle Kinder. Und noch weniger Jugendliche.
Gut 60 Familien wohnen hier auf wenigen Quadratmetern. In selbst gezimmerten Holzhütten, hinter Planen oder in Autowracks. Rainbow ist eines von inzwischen zwölf informellen Lagern im Stadtgebiet – und es ist das älteste. 1962 ließen sich hier die ersten Familien nieder, manche mit ihren Habseligkeiten in nur einer Tasche. Heute, mehr als 60 Jahre später, spielen auf dem staubigen Platz beim Eingang die Kinder der vierten Exil-Generation.
Es sind Familien aus West-Papua, die hier leben. Und es sind die Folgen einer kolonialen Vergangenheit, die über die Jahrzehnte hinweg Tausende Menschen aus dem Westen der Insel Neuguinea über die Grenze in den östlichen Teil, nach Papua-Neuguinea, getrieben haben. Die erste Fluchtwelle begann Anfang der 1960er-Jahre, als die Region nach dem Ende der einstigen Kolonie Niederländisch-Neuguinea nicht – wie von den Bewohnern erhofft – unabhängig, sondern von Indonesien eingenommen wurde. Für alle, die blieben, folgten Jahre der Unterdrückung. Wer sich für die Freiheit einsetzte, war in großer Gefahr.
Besatzung statt Unabhängigkeit
Samuel Inggamer: "Die Aufgaben hier sind klar verteilt."So ging es auch Hermanus Bonggoibo. Der Konflikt war Teil seiner Kindheit. Als junger Mann schloss er sich der Befreiungsbewegung an. Da waren bereits weite Teile seiner Familie vom indonesischen Militär ermordet worden. „Ich wollte die Unabhängigkeit so sehr“, erzählt er. „Wir haben uns immer als Melanesier empfunden.“ Als er nach vier Jahren aus dem Gefängnis freikam, war Bonggoibo 26 Jahre alt. Nur noch seine Mutter und eine Schwester waren am Leben. Gemeinsam schafften sie die Flucht. Immer wieder mussten sie weiterziehen, wenn provisorische Lager geräumt wurden, bis sie schließlich in Port Moresby ankerten. Heute ist Hermanus Bonggoibo 72, Vater von sieben Kindern und jeder Menge Enkelkinder, die alle im Exil geboren wurden. Seine Heimat, die Tropen-Insel Biak, hat er nie wiedergesehen.
Samuel Inggamer kennt die Lebensgeschichte von Hermanus gut. Er kennt die Geschichte jeder Familie hier in Rainbow. Schließlich ist er der Camp-Vorsteher. Als solcher führt er heute Jason Siwat durchs Lager, der das Referat für Migration und Geflüchtete der katholischen Bischofskonferenz von Papua-Neuguinea und den Salomonen leitet. Die beiden Männer kennen sich gut. „Die Kirche sieht nach uns“, sagt Inggamer.
Vier Jahre war Samuel alt, als er mit seinen Eltern über die Grenze nach Papua-Neuguinea flüchtete. Da hatte er den Vater gerade erst kennengelernt, der als Kämpfer der OPM-Guerilla („Organisasi Papua Merdeka“) über Jahre in indonesischen Gefängnissen inhaftiert gewesen war. „Mein Vater ist hier in Rainbow gestorben“, erzählt Samuel Inggamer. Für ihn als Sohn ist West-Papua heute ein Schatten aus der Vergangenheit. Über eine Rückkehr in das Land der Vorfahren, in dem die verbliebenen Ethnien weiterhin diskriminiert und vielfach enteignet wurden, denkt in den Camps schon lange niemand mehr nach.
Die Schatten aus der Vergangenheit reichen bis ins Jetzt
Papua-Neuguinea ist nicht zur neuen Heimat geworden. Auch hier kämpfen die West-Papua als ungeliebte Minderheit täglich gegen Diskriminierung, Rassismus und Armut. Samuel Inggamer führt weiter durch das Lager, in der sich die Gemeinschaft zu organisieren versucht. „Die Aufgaben hier sind klar verteilt“, erzählt er. Er kümmert sich um die Finanzen und sammelt das Geld ein für den offiziellen Stromanschluss. Bei Konflikten vermitteln die Ältesten. Stolz zeigt Inggamer das neu gebaute Toilettenhäuschen. Eines für alle. „Keine guten Verhältnisse“, sagt er. Aber immerhin jetzt mit Tür und damit ein sicherer Ort für die Frauen und Mädchen. Auch die zwei Wasseranschlüsse werden geteilt. „Die haben wir uns selbst gelegt.“
Die wenigsten Menschen im Camp können sich Arztbesuche leisten.Nachts bleibt das Lager dunkel. Beleuchtung wäre zu teuer, denn die Einnahmen der Familien sind spärlich. Die meisten West-Papua hier gelten als staatenlos – ohne Land- und ohne Wahlrecht. Daher ist es für sie kaum möglich, eine Festanstellung zu finden. Die Mehrheit arbeitet im informellen Sektor. Viele sammeln alte Dosen oder Plastikflaschen. Für ein Kilogramm Altmetall gibt es drei Kina, umgerechnet knapp 25 Cent. „Die meisten hier können sich nur zwei Mahlzeiten am Tag leisten“, sagt Inggamer.
Die Kirche ist Ansprechpartner
Regelmäßig schauen Jason Siwat und sein Kollege vorbei, hören sich die Sorgen der Bewohner an, beraten zu deren Rechten und behalten besonders die Kinder und Jugendlichen im Blick, die zur Schule gehen sollen. In regelmäßigen Abständen hält die mobile Klinik der Kirche in den Camps, denn die wenigsten können sich einen Arztbesuch leisten. Stirbt jemand, hilft die Kirche finanziell aus, damit bestattet werden kann.
Samuel Inggamers Familie steht noch gut da. Der 49-Jährige hat einen Job als Wachmann bei einer kirchlichen Einrichtung. Alle vier Kinder besuchen die Schule, dank der Zuschüsse der Kirche zu Schuluniform oder Einschreibegebühr.
„Gerade die Jungen müssen diesen Kreislauf durchbrechen“, sagt Samuel Inggamer. „Wenn sie als West-Papua keine Qualifikation haben, haben sie gar keine Zukunft!“
Das sieht Ursula Magai ebenso. Auf der Straße vor dem benachbarten Camp Waigani verkauft sie kleine Bündel aus selbst gesammeltem Feuerholz. Fünf Kina das Päckchen, einen guten Euro. Damit kann sie Hefte, Stifte und die Schulkleidung der Kinder bezahlen. Die Gegend ist nicht die beste. Ursula Magai ist froh, wenn sie wieder hinter dem Zaun ist. Wobei: Sicher ist es auch innerhalb des Camps nicht. Immer wieder gibt es Diebstahl oder Frauen werden nach der Dämmerung bedrängt. West-Papua hat Ursula Magai nie betreten. Sie wurde auf der Flucht geboren, vor 34 Jahren. Mit ihrem Mann und den drei Kindern teilt sie einen Einzimmer-Bretterverschlag. Es gibt eine Matratze, sogar ein Moskitonetz. „Wir haben nur eine Zahnbürste für uns alle“, sagt sie. „Aber die Kinder gehen zur Schule.“ Sie sollen es später besser haben.
"Wir brauchen endlich Land, das uns gehört!"
Matthew Akari: "Wir brauchen endlich Land, das uns gehört."
Doch dazu braucht es neben Bildung auch Land, einen Ort zum Ankommen. Am Nachmittag ist Jason Siwat zu Gast in Hohola, dem kleinsten Camp im Stadtgebiet. 20 Familien leben hier auf einem brachliegenden Grundstück und teilen sich eine Dusche, eine Toilette, einen Wasserhahn – und einen Unterstand als Kirche. Doch diese Woche war die Polizei da, berichtet Matthew Akari, der 76-jährige Camp-Chef und Laienpriester der Exil-Gemeinde. Unter den Familien herrscht Unruhe. Viele fürchten, bald wieder auf gepackten Taschen zu sitzen. „Wir brauchen endlich Land, das uns gehört“, fordert Akari.
Die Kirche kennt diese Fälle. Für Hohola hat sie inzwischen einen Anwalt beauftragt. Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht. „Diese ewige Ungewissheit belastet die Menschen“, sagt Siwat. Es gebe Familien, die sieben oder acht Mal umgesiedelt wurden. „Wir tun, was wir können“, beschwichtigt er die aufgebrachte Runde, die sich auf dem Platz des Camps versammelt hat. Ein junger West-Papua, Simon Kusumbruie, ergreift das Wort. Er ist wütend: „Ja, ihr kommt vorbei, ihr kümmert euch, und ihr bringt Journalisten aus Europa mit. Aber ich frage mich: Wann ändert sich endlich etwas? Wann beginnt unser Leben?“