Die Freundinnen Kelamwa (links) und Cicilia (rechts) wollen nach der Highschool Psychologie studieren.CICILIA HAT GROSSE PLÄNE. Nach dem Highschool-Abschluss will sie an der Universität Psychologie studieren. Zusammen mit ihrer Freundin Kelamwa hat sie sich schon die Erstsemesterbücher besorgt. Die beiden Teenager sitzen im Mädchenschlafsaal des Waisenhauses St. Clare auf ihren Betten und sortieren ihre Uni-Lektüren, von denen sie sich eine bessere Zukunft erhoffen. „Ich war sechs Jahre alt, als ich nach St. Clare kam“, erzählt Cicilia. Ihre Familie stammt aus dem rund 100 Kilometer entfernten Ort Jilbo. Cicilia ist die jüngste von acht Geschwistern. „Als ich eineinhalb Jahre alt war, ist meine Mama gestorben. Ich kann mich an sie leider gar nicht mehr erinnern.“ Aus Erzählungen weiß sie, dass der Vater wohl überfordert war von der Situation und sich kaum gekümmert hat. Sie wächst bei der Großmutter auf. Als auch sie stirbt, ist das Mädchen vollkommen auf sich allein gestellt, bettelt in den Straßen Jilbos nach Essen. Der örtliche Diözesanpriester wird auf das Mädchen aufmerksam und bittet das Team von St. Clare, sie in ihre Obhut zu nehmen. zwölf Jahre ist das jetzt her. Cicilia ist heute 18 Jahre alt, eine selbstbewusste junge Frau, die St. Clare längst ihr Zuhause nennt.
Das Waisenhaus am Rande der historischen Altstadt von Harar besteht aus mehreren flachen Gebäuden, dem Schlafsaal für die Mädchen, daneben der Schlafsaal der Jungen. 42 Kinder leben hier. Es gibt einen Gemeinschaftsraum, eine große Küche, einen Speisesaal und einen Innenhof mit einem weiten Blick über die Ausläufer des äthiopischen Hochlands. Die Gebäude grenzen direkt an das Bischofshaus und die kleine Kathedrale mit dem roten Wellblechdach – „eine der kleinsten Kathedralen der Welt“, wie der amtierende Bischof Angelo Pagano betont. Der Kapuziner wohnt in dem bescheiden eingerichteten Backsteinbau und trägt die Verantwortung für St. Clare – genauso wie für die angrenzende Grundschule und die mehr als 100 Projekte des apostolischen Vikariats. Dazu zählen unter anderem ein Altenheim, sieben Schulen und vier Kliniken.
Geborgenheit und Schulbildung
Jeden Morgen wird im Pausenhof der Schule die Nationalhymne gesungen.Für Cicilia und die anderen Jugendlichen und Kinder von St. Clare beginnt der Tag jeden Morgen um 6.30 Uhr mit einem gemeinsamen Gottesdienst. In kleinen Grüppchen schlendern sie am Bischofshaus mit seinen alten Holztüren vorbei in Richtung Kathedrale, flüstern und kichern. Die Mädchen bedecken ihre Köpfe wie in Äthiopien üblich mit weißen oder bunten Tüchern und nehmen auf den schlichten Bänken Platz.
Nach der Kirche geht es zum Frühstück in den Speisesaal und anschließend in die Schule. Während Cicilia, Kelamwa und die anderen älteren Schülerinnen und Schüler mit dem öffentlichen Bus oder einem Bajaj – den hier gängigen Motorradtaxis – in die weiterführende Schule fahren, gehen die Kleinen in die angrenzende Grundschule. Zu ihnen gehören die siebenjährige Emebet und ihre ein Jahr ältere Freundin Arsema. Emebet ist das jüngste Mädchen in St. Clare. Auch ihre Mutter starb, als Emebet noch ein Baby war. Sie ist seit zwei Jahren hier im Waisenhaus von Harar. Fast zur gleichen Zeit kam auch Arsema nach St. Clare, seitdem sind die beiden unzertrennlich. In ihren schlichten Schuluniformen eilen sie die wenigen Meter hinüber zu den Klassenzimmern. Heute ist Examenstag, die Lehrerinnen und Lehrer prüfen in jeder Jahrgangsstufe den Wissensstand der Kinder.
Schule mit großer Geschichte
Die Schule wurde einst von katholischen Missionaren gegründet und genießt in der Gegend große Bekanntheit. „Ihr wisst schon, wer hier zur Schule ging?!“ ruft Schuldirektor Kalab Eyesus den über den Pausenhof eilenden Freundinnen Emebet und Arsema entgegen und beantwortet seine Frage gleich selbst: „Natürlich war Tafari Makonnen, der spätere äthiopische Kaiser Haile Selassie, als Kind bei uns auf der Schule.“ Nachdem er die beiden Freundinnen mit Nachdruck in ihre jeweiligen Klassenräume gelotst hat, widmet er sich wieder ganz der ruhmreichen Geschichte seiner Schule: 1892 kam Tafari Makonnen in der äthiopischen Provinz Harar als Sohn des damaligen Gouverneurs Ras Makonnen Woldemikael zur Welt und besuchte später die Grundschule der Missionare. Nach dem Tod der Eltern nahm der Cousin des Vaters, Kaiser Menelik II., der selber keine Söhne hatte, den jungen Tafari am Hof in Addis Abeba auf.
„Unsere Schule war schon damals bekannt für ihren hohen Bildungsstandard“, sagt Kalab Eyesus. Daran habe sich nichts geändert. Insgesamt besuchen gerade 113 Schülerinnen und Schüler die Einrichtung, von der Vorschule bis zur sechsten Klasse. Neben den Kindern aus dem Waisenhaus sind es vor allem Kinder aus der Stadt, die hier von 16 Lehrkräften unterrichtet werden. „Dabei tun sich die Mädchen und Jungen aus St. Clare mit der Schule wesentlich leichter, als die anderen Kinder“, erzählt der Schulleiter. „Sie haben nach der Schule im Waisenhaus eine strenge Lernzeit, ihre Hausaufgaben werden kontrolliert, die älteren helfen den jüngeren.“ Die anderen Kinder hätten es da oft schwerer. „Vor allem in den ärmeren Familien fehlt es zuhause am Nötigsten. Oft können die Eltern selbst nicht lesen und schreiben, wollen, dass ihre Kinder einfach nur früh Geld verdienen und sind überhaupt keine Unterstützung.“
Schulleiter Kalab Eyesus mit einer Klasse.Den Verantwortlichen von St. Clare ist es wichtig, dass die Kinder einen strukturierten Tag mit klaren Abläufen haben. Erste Bezugsperson für die Mädchen und Jungen ist Erzieherin Rosa, die seit 34 Jahren hier arbeitet und von Generationen von Kindern liebevoll „Mama Rosi“ genannt wird. Nach den Prüfungen eilen Emebet und Arsema zu ihr. Zu gerne lauschen sie Rosas Erzählungen von den ehemaligen Kindern des Waisenhauses, zu vielen von ihnen hat Rosa noch Kontakt. Sie erzählt von Marcos, dessen beide Elternteile an Tuberkulose starben. „Er war ein sehr schlauer Schüler und hat schon früh gesagt, dass er Arzt werden will, damit die anderen Eltern überleben können“, erinnert sich Rosa. „Und er hat es geschafft! Er hat Medizin studiert und arbeitet jetzt in der kleinen Stadt Hirna, vier Stunden mit dem Auto von Harar entfernt, im Krankenhaus!“ Emebet und Arsema nicken andächtig.
Die Erfolge der Ehemaligen
Erzieherin Rosa mit ihrem ehemaligen Schützling Meliya.
Mehr als sechs ihrer Schützlinge lebten jetzt in den USA oder Kanada, erzählt „Mama Rosi“ weiter. Ein ehemaliger Schüler sei mittlerweile Priester in Italien und dann ist da natürlich noch Meliya. Die heute 32-Jährige ist eine erfolgreiche Drogistin in einer Apotheke in Harar und will selbst bald einen eigenen Laden eröffnen. Regelmäßig besucht sie Rosa in St. Clare. Emebet und Arsema bewundern sie wie eine große Schwester. „Wenn es St. Clare nicht gäbe, hätten die allermeisten der Kinder hier keine Chance auf eine Zukunft“, sagt Bischof Angelo Pagano. Sie würden weiter in Armut leben, in den Gassen nach Lebensmitteln betteln. In den ländlichen Gebieten gibt es nur wenige Schulen. Viele der Kinder lernen niemals Lesen und Schreiben. Für die Mädchen ist es ein gängiges Schicksal, mit 14 Jahren verlobt zu werden, zu heiraten
und früh Kinder zu bekommen.“
Die Kinder von St. Clare sind sich ihrer Chancen und den Privilegien durchaus bewusst. Nachdem sie aus der Highschool zurückgekommen sind, ordnen Cecilia und Kelamwa ihre Schulbücher gewissenhaft in Spinten neben den Stockbetten ein. Wie alle hier besitzen sie nur wenige Habseligkeiten, Fotos kleben an den Metalltüren neben den Betten. Emebet und Arsema haben sich auf ihr Stockbett gleich gegenübergesetzt. Sie bewundern die beiden Teenager, die sich über das anvisierte Psychologiestudium unterhalten. Arsema und Emebet tauschen verschwörerische Blicke. Auch sie hegen große Pläne. Die beiden träumen davon, später einmal Ärztinnen zu werden.