„Her mit dem Geld”: Diese Jugendlichen verarbeiten in selbst geschriebenen Theaterszenen, was sie zu Hause erlebt haben.„HER MIT DEM GELD!“, schreit der Mann seine Frau an. Sie widerspricht ihm nur kurz, dann gibt sie nach. Wieder einmal fügt sie sich in ihr Schicksal. Sie muss ihr hart verdientes Geld abliefern, denn ihr Mann ist arbeitslos, selbst verdient er nichts. Diese Szene ist nur gespielt. Eine Gruppe Jugendlicher stellt sie auf einer kleinen Theaterbühne nach. Doch die Wirklichkeit ist nicht weit entfernt. „Wer von euch kennt diese Szene?“ Das fragen sie nach der Vorstellung ihr Publikum. Und es dauert nicht allzu lange, bis sich die Ersten melden. Bei ihnen zu Hause ist es auch so. Ähnlich fällt die Reaktion aus, als sie zeigen, wie eine Tochter sich das Leben nehmen möchte – aus Verzweiflung, weil sie von ihrem Vater gedemütigt wird. Auch das haben viele hier schon erlebt oder zumindest davon gehört.
Nikhila heißt der kleine Ort nahe des Nils in Oberägypten. Aber es könnte auch jeder andere Ort in der Region sein. „Schon lange sind Frauen bei uns nur Bürger der zweiten Kategorie“, sagte Kyrillos William, der langjährige koptisch-katholische Bischof von Assiut im Februar 2023. Es war sein großes Anliegen, die Frauen und Mädchen in seiner Heimatregion voranzubringen. Egal, ob sie zu seiner koptischen Christengemeinde gehörten oder zur muslimischen Mehrheit. Mit dem Entwicklungsprogramm ,,Mussawat“ soll das gelingen. Der Name bedeutet: Gleichberechtigung. Diese ist in Ägypten nicht garantiert. Das Hilfswerk „Terre des Femmes“ bescheinigt Ägypten „in puncto Frauenrechte massive Defizite“. Als Beispiele werden weithin praktizierte Traditionen genannt. Im Jahr 2014 waren 92 Prozent aller verheirateten Frauen beschnitten – obwohl das grausame Ritual inzwischen gesetzlich verboten ist. Gerade in ländlichen Regionen sei Zwangsverheiratung üblich. Und außerdem gebe es die islamische „Touristen-Ehe“. Reiche Gäste aus den arabischen Golfstaaten würden sich eine ägyptische Zweitfrau leisten. Die Familien der Frauen gehen aus purer Not darauf ein. Wo also ansetzen?
„Mussawat“ zeigt neue Wege für Mädchen auf
Sogar gemeinsame Spiele auf dem Schulhof sind nicht selbstverständlich.An einem Vormittag in der Grundschule von Sidfa, einer Gemeinde im grünen Siedlungsgebiet auf der Westseite des Nils. „Wir haben uns die bedürftigsten Schulen ausgewählt“, sagt Hani Fawzy. Er leitet das Programm „Mussawat“ im Auftrag der Kirche. Als Christen sind sie in der Minderheit. Doch heute, beim Ortstermin in der Schule, finden die muslimischen Vertreter des Bildungsministeriums lobende Worte: Wo bisher nur die Jungen profitiert hätten, würden sich nun endlich auch neue Wege für die Mädchen eröffnen. Der Schulleiter ergänzt: „Das wirkt sich auch auf die Lehrkräfte aus.“ Denn oft hätten es Lehrerinnen schwer, sich Autorität zu verschaffen.
Wie sich das nun ändert? Durch einfache Schritte, einen nach dem anderen. Mannschaften im Schulsport nehmen auch Mädchen auf. Mädchen werden ins Amt des Klassensprechers gewählt. Gemeinsame Spiele im Pausenhof und Diskussionsrunden im Klassenzimmer beziehen alle ein. Die Lehrkräfte werden entsprechend geschult. ,,Ich kann sagen, dass wir gute Fortschritte machen“, gibt der Schulleiter zu Protokoll. Dann allerdings, räumt der Vertreter des Ministeriums, der mit seiner Kollegin angereist ist, noch ein: Er habe alleine hier in diesem Bezirk rund 900 Schulen in seiner Verantwortung. Das aktuelle Programm erreiche gerade einmal zehn Schulen. Aber ein Anfang sei getan.
„Es ist sehr schwer, die Männer zu überzeugen"
Männer sind weiterhin die Entscheidungsträger in Dörfern und Familien.Gerade hat die ägyptische Regierung Vollverschleierung in Schulen verboten. Eine Maßnahme, die Kritik bei strenggläubigen Muslimen weckt. Aber gedacht ist sie als Zeichen der Öffnung und der Gleichberechtigung. „Wir arbeiten auch mit muslimischen Organisationen zusammen“, erläutert Projektleiter Hani Fawzy. Er ist davon überzeugt: Um erfolgreich die Gleichberechtigung zu fördern, müssen alle dabei sein. Frauen und Männer. Mütter und Väter. Christen und Muslime. Alt und Jung. Seine Kollegin Nahed Sameer ergänzt: „Es ist sehr schwer, die Männer zu überzeugen. Normalerweise machen sie bei so einem Programm nicht mit. Aber manchmal gelingt es uns.“
Anfangs seien sie skeptisch gewesen, bestätigt ein Imam, der mit dem Titel „Sheikh“ angesprochen wird. „Wir haben gedacht: Es ist gegen die Scharia.“ Doch die Zusammenarbeit mit den Christen sei gut für das ganze Dorf. Traditionen können sich wandeln. Wobei, was bedeutet schon „traditionell“? Genauso gut könnte man auf die jahrtausendealten Traditionen der alten Ägypter verweisen. Hat es dort nicht immer wieder mächtige Frauen gegeben, die großen Einfluss hatten? Die Kaiserin Hatschepsut, deren Tempel in Theben noch heute zu den größten Touristenzielen des Landes zählt? Oder, noch bekannter: Die legendäre Königin Kleopatra?
Ausbildung für Mädchen? In ärmeren Familien oft Fehlanzeige
"Diesmal war ich auch dabei.“ Waled AhmadOft scheinen Argumente und Begründungen dieser Art sowieso nur vorgeschoben. In Wahrheit stehen ganz andere Zwänge dahinter. Die grassierende Armut zum Beispiel. Ägypten erlebt starke Inflation, die Preise für die wichtigsten Lebensmittel sind dramatisch gestiegen. Ein Kilo Hühnerfleisch kostet 120 ägyptische Pfund (3,60 Euro). Drei Monate zuvor waren es nur 30 Pfund gewesen. Assiut ist eine der ärmsten Provinzen. Ein, zwei Mal pro Woche hält in den Dörfern ein kleiner Lieferwagen. Dort gibt die Regierung Lebensmittel zu stark subventionierten Preisen ab, um die größte Not der ärmeren Bevölkerung zu lindern. An den Fahrzeugen hängt selbstverständlich das Portrait des mächtigen Präsidenten General as-Sisi. Er will das Land mit gewaltigen Bauprojekten voranbringen. Aber ein Kirchenmann aus Oberägypten sagt im Schutz der Anonymität: „Das ist wie bei einem Anzug: Die Jacke ist strahlend und neu. Aber die Hose hat Löcher.“ Derartige Kritik ist gefährlich, wer sie öffentlich äußert, riskiert sofort eine Gefängnisstrafe.
In ärmeren Familien In ärmeren Familien reicht das Geld oft nur für die Ausbildung der Söhne. Die Mädchen müssen warten. Sie können keinen Beruf erlernen, kein eigenes Geld verdienen. Das soll jetzt anders werden. Im Dorf Gahdam hat sich eine Frauengruppe versammelt. Manche mit Kopftuch, andere ohne. Christliche Frauen und ihre muslimischen Nachbarinnen. Vielleicht sogar Freundinnen. Sie tauschen ihre Erfahrungen aus. Eine Frau namens Rasha sagt: „Oft werden bei uns Unterschiede gemacht. Aber ich habe meinen Nachbarn gesagt, dass sie auch ihre Mädchen in die Schule schicken sollen, genauso wie die Jungen.“ Die anderen stimmen lautstark zu. „Langsam merken wir, wie sich die Dinge in unseren Familien verändern. Das macht uns glücklich.“ Vor kurzem wurde ein Ausflug organisiert. Nach Luxor und Assuan, zu den berühmten Sehenswürdigkeiten des alten Ägypten. „Bisher durften bei so einem Besuch immer nur die Jungen mitfahren, und wir Mädchen nicht“, sagt Waled Ahmad. „Aber diesmal war ich auch dabei.“
"Ich lasse mir den Traum nicht nehmen"
Abends im Stadtzentrum von Assiut. Hier zweigt sich der 1873 fertiggestellte Ibrahimiyya-Kanal vom Nil ab und macht das Land für 350 Kilometer fruchtbar. Zwei Freundinnen, Mona und Sondoz, die gerade 18 Jahre sind, bleiben stehen, blicken auf das Wasser. Mona erzählt vom Leben als Studentin. Eigentlich wollte sie Medizin studieren, am liebsten im Ausland. „Vielleicht ja in Berlin?“ sagt sie. Doch das hat bisher nicht geklappt. Sie hätte sich für ein Stipendium in Moskau bewerben können. Aber als der Krieg ausbrach, verboten es ihre Eltern. „Eines Tages wird es soweit sein“, sagt sie. „Ich lasse mir meinen Traum nicht nehmen.“
Aber werden sich die traditionellen Meinungsführer ihre Macht und ihren Einfluss nehmen lassen? Ändern sich die Zeiten? Derselbe Kirchenvertreter, der so kritisch von „Anzug und Hose“ sprach, schildert noch eine andere Begebenheit. Eines Tages ging er durch die Straßen und traf einen Mann, der im ganzen Ort bekannt war. Ein einflussreiches Familienoberhaupt, dem allerdings auch Verbindungen zum organisierten Drogenhandel vorgeworfen wurde. Vorsicht war geboten. Wie würde er auf einen Christen reagieren? „Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und wurde nervös.“ Das Gegenüber entspannte sich: „Meine Tochter ist bei euch im Kurs. Es gefällt ihr dort sehr gut.“ Man grüßte sich, dann ging man weiter.